lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2008
 
Isabella Vogel
 
 
Von der Sprache aus hat man eine gute Aussicht
 
„Das Tagebuch entpersönlicht mich derart, dass ich mir selbst als ein anderer erscheine. All meine tagtäglichen Zustände und Wandlungen entgleiten mir wie flüchtige Zufälle, die mir fremd sind, die mein Innerstes nicht berühren. Sie sind nicht Ich. Ich bin eine Verneinung, die sich verneint, eine Spiegelung, die sich spiegelt, mein Wachen weiß ich als Traum eines Traums.“
(Henri-Frédéric Amiel, 19. Jahrhundert)
 
Ich habe mir verschiedene Poetiken aus der Antike bis hin zu unserer Zeit angesehen und von Seite zu Seite, von Regel zu Regel immer mehr feststellen müssen, dass all dies nur wenig mit mir und meiner Schreibintention zu tun hat. Ich dichte aber trotzdem und das hat wahrscheinlich viel mehr mit mir, diesem „lyrischen Ich“ – in welcher Rolle es sich auch immer befindet – zu tun, als mit den meisten Theorien über Poesie.

Wenn ich nun eine Poetik verfassen soll und mich als Poetin verstehen soll, dann muss ich wohl oder übel auch von mir erzählen. Somit ist der Leser dieser Poetik Psychologe und Philologe in einem.

Um zu der Erkenntnis Amiels zu kommen, die ich oben zitiert habe, braucht es meiner Meinung erst einmal viel Chaos. Bei mir entstand das so:

Als ich in die erste Klasse kommen sollte war die staatliche Betongrundschule in Westberlin so überfüllt, dass man 4 Klassen auserwählte, sie auf ein weites Feld in ein kleines quadratisches Landhaus schickte und das ganze „Gartenarbeitsschule“ nannte.

Ich lernte dort Rhabarber anzupflanzen, ins Eis einzubrechen und einen immigrierten Jungen aus dem Kosovo heimlich im Geräteschuppen zu küssen, direkt auf seinen schwarzen Schneidezahn.

Ich fing mir im Teich Babyfische und beobachtete sie traurig beim Sterben in der Teekanne, mein Bruder warf am 1. Mai Backsteine auf Polizisten, was dieselben zu nächtlichen Hausdurchsuchungen meiner Unterhosen bewog und meiner Mutter Dutzende Nervenzusammenbrüche bescherte.

Das alles schrieb ich noch nicht auf, aber es bewirkte doch zumindest eines: Dieses unbestimmte bittere Gefühl, dass die Welt, in die ich da hineingeschmissen wurde ein einziges Chaos sei und ich entweder darin ertrinken oder mir ein Podest suchen müsste, auf das man sich ziehen könnte, um dieses Chaos von Weitem wie ein Theaterstück zu beobachten, die Welt von sich selbst zu distanzieren.

Schließlich zogen wir um und ich durfte die letzten zwei Jahre meiner Grundschulzeit endlich in einem riesigen Betonklotz verbringen. Dieser Betonklotz war vollgepfercht von Kindern oder – wie ich dann bald merkte – von ihren Eltern zu kleinen Monstern, zu Sprengkörpern genährten Individuen.

Da die kleinen Sprengkörper allesamt in meiner Nähe explodierten (…) wurde ich noch weiter in die Distanz zur Welt geschleudert. Mit 10 entschloss ich mich daraufhin dazu Krankheiten zu simulieren. Ich verbrachte Wochen mit gespielten Blinddarmreizungen im Krankenhaus und Wochen in meinem Bett daheim, das Thermometer an der Glühbirne erwärmend und bei jedem Krankenbesuch in Hustenanfälle verfallend. Die restliche Zeit glotzte ich meine Blumentapete an.

Irgendwann hatte ich so lange auf die Blumentapete gestarrt, dass ich anfing ein Gemisch aus geträumter und erlebter Welt in Form von kleinen Geschichten, Tagebüchern und Gedichten niederzuschreiben.

Plötzlich hatte ich das rettende „Podest“ gefunden, einen Aussichtspunkt vor der Welt, der mir nicht nur eine weite Aussicht auf dieselbe, sondern auch eine „Aussicht“ auf eine andere, vielleicht sogar bessere Wirklichkeit schenkte.

Alles ließ sich fortan gelassener sehen, denn alles bestand nur noch aus Wörtern, aus Sprache – eingeschlossen meiner selbst.

Ich integrierte mein Ich in dieses gigantomanische Theaterstück und empfand jeden neuen Tag und jede Person als einen weiteren Akt des endlosen Dramas.

Auf dem Gymnasium färbte ich mir die Haare rot-grün, nähte einen Regenschirm in meine Hose ein und ließ meine Hosenträger wie ein Geschäftsmann vor und zurück schnallen. Am Wochenende saß ich mit den Punks am Alexander Platz und hörte mir Geschichten über Nietzsche und Lieder von Quetschenpaua an.

In der Woche saß ich wie ein schwankender, klimpernder Weihnachtsbaum im Unterricht und freute mich über jeden neuen Ausbruch des Unverständnisses meiner Mitmenschen. Es gehörte ja alles zum riesigen Spiel und das Spiel gehörte zur Sprache.

Den Gipfel des Spiels hatte ich erreicht, als mein korpulenter Religionslehrer eine ganze Stunde mit der Frage „Isabella, was bezweckst du mit deiner äußeren Erscheinung?“ füllte. Ich entgegnete ihm erfreut: „Mm…ich möchte den anderen gerne ihre Oberflächlichkeit bewusst machen.“ und innerlich jubilierte ich über die herrliche Absurdität, in der mich wieder befand.

Jeder Blick in die gutbürgerlichen, wohlhabenden Familien meiner wenigen Freundinnen öffnete nur eine neue Tür zu einem weiteren Schauplatz des Dramas.

Schlagende Mütter, missbrauchende Väter, misshandelte Haustiere, Kaviarhäppchen auf einem untilgbaren Schuldenberg – Mir kam es so vor, als würde ich niemals außerhalb der Theorie so etwas wie „Normalität“ zu Gesicht bekommen.

Schließlich beendete ich meine modischen Experimente, als eine Englischlehrerin sich über die Sichtbarkeit meines BH-Ansatzes pikierte. Meine Oma stieß einen „Endlich-wird-sie-erwachsen-Seufzer“ aus und meine Mutter stellte erstaunt fest, dass die „Mode“ sich von Tag auf Nacht geändert hatte.

Ich begann Theaterstücke für den schuleigenen Weihnachtsmarkt zu schreiben. In diese baute ich immer Szenen mit Alkohol ein, damit wir uns auf Staatskosten besaufen konnten. Da wir immer ziemlich viel Geld einnahmen, durfte ich nun jedes Jahr ein Theaterstück schreiben und mich bei den Proben wie Klaus Kinski und Claus Peymann in einem aufführen.

Hinzu kam noch eine irrationale Liebe zu einem meiner Lehrer, welche wohl endlich auch eine erotische Komponente in meine Lyrik brachte… und so ging es immer weiter und so geht es auch heute noch immer weiter –

Das Schreiben bleibt also für mich ein Aussichtspunkt, auf welchem jeder sich niederlassen kann, der von der Welt durchgerüttelt, auf sie, sein Leben und sein Ich herunterblicken will. Ich versuche diesem Wirrwarr, was ich dort sehe, Worte zu geben. 

Denn manchmal, da erscheinen mir die Worte so unbefleckt, als hätten sie weit hinter dem „Verrückten“ einen noch weiter fortgerückten Platz eingenommen. Dort, wo dieser Aussichtspunkt der Sprache steht, da ist eine zweite entlegene Welt für mich, in der es keine Rolle spielt, was wohin gerückt ist, nur das es standhaft bleibt, das Wort, und das es nicht umfällt in der Zeit und in der Belanglosigkeit, das versuche ich zu erreichen. 

 
Gedichte zur Poetik: im bassin / Der Morgen nach dem Tod...°°°