lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2011
 
Lutz Steinbrück
 
 
Gedanken zu meinen Gedichten
 
Impulse: Wo kommen Gedichte her? Meine Gedichte beginnen zum Beispiel auf dem Fahrrad. Im Frühling 2010 fuhr ich durch Kreuzberg und sang den Song „Ain't she sweet“, den ich von den Beatles kannte, die ihn Anfang der 60er gecovert hatten. Allerdings sang ich einen falschen Text, nämlich „Just close your eyes / in my direction“. In Wahrheit heißt es (Danke, Google!) „Just cast an eye / in her direction“ (Wirf‘ einen Blick in ihre Richtung). Nachdem ich meine falsche Variante gesungen hatte, übersetzte ich sie ins Deutsche, stieg vom Fahrrad und schrieb das auf. So wurde „Schließ deine Augen in meine Richtung“ zum Anfang dieses Gedichts:
 
Luftbild
 
Schließ deine Augen
in meine Richtung
spürst du das Zittern
leicht

fall' ich in Gedanken an
die falschen Stellen zurück
in abschüssige Richtungswechsel
ein halbherziges Blühen

die Landschaft: unverdächtig
wie eine fremde Sprache
lausche ihr nach
auf dem Weg ins Trockendock

egal, welche Art von Verschwinden du da übst
am liebsten lese ich dich nachts

 
Impulse, die zu Initialzündungen für meine Gedichte werden, entstehen unmittelbar in alltäglichen Situationen. Das Gedicht „Lufthoheit“ beginnt mit den Zeilen „stieg ein, fragte: / Wer hat die Perserkatze erfunden?“ Eine Frage, mit der ein zugestiegener Fahrgast um die 60 tatsächlich einen minutenlangen, lautstarken Monolog in der Berliner U-Bahn eröffnete (U8, Nähe Hermannplatz).
 
„Schließ deine Augen in meine Richtung“ sehe ich als einen inneren Impuls, weil er dem Bewusstsein entspringt und im Moment der Entstehung keinen inhaltlichen Bezug zur sozialen Situation bzw. zur Außenwelt aufweist. (Der Ursprung dieses inneren Impulses, das Hören des Songs, ist seinerseits ein äußerer Impuls, der Jahre zurückliegt.) Im Fall von „Lufthoheit“ wiederum finde ich es passend, von einem äußeren Impuls zu sprechen. Diesem Gedicht liegt eine direkte situative Einwirkung durch die Außenwelt (in Person des zugestiegenen Fahrgastes und seiner Äußerung) zugrunde. Zeitpunkt und der Ort des Geschehens bleiben mir in der Regel bei äußeren Impulsen stärker in Erinnerung.
 
Allen Impulsen gemeinsam ist, dass sie in der jeweiligen wahrgenommenen Situation etwas Bemerkenswertes für sich beanspruchen. Etwas, das den gewohnten Rahmen meines alltäglichen Erlebens sprengt oder zumindest darüber hinausweist. Etwas, worüber ich nicht hinweggehe, das ich aufschreiben will und das möglicherweise zum Anfang eines Gedichtes oder eines Songtextes wird oder darin einfließt. Dabei sind die einzelnen Impulse vielfältiger und nicht vorhersehbarer Natur: Wortschöpfungen, die sich aus Missverständnissen oder bewussten Verdrehungen ergeben zählen ebenso dazu wie starke optische Eindrücke, Flyertexte oder Zeitungsartikel.
 

Impulse, die Gedichte auslösen, lotsen Wörter in den Sinn, Wort-Kombinationen, Zeilen, die sich festsetzen und danach verlangen, niedergeschrieben zu werden. Impulse sind der leichte Teil des Schaffensprozesses. Sind die Funken, die es braucht, um Gedichte daraus zu machen. Motivieren zum Schreiben.

 
Der Schreibprozess: Die eigentliche Arbeit am Gedicht beginnt erst am Schreibtisch, wenn es darum geht, aus einem Funken eine Flamme zu erzeugen. Während die Impulse ungeplant heranrauschen und schriftlich fixiert werden, folgt im Schreibprozess ein gewisses Kalkül: Wie baue ich den Text auf? Was will ich mit dem Gedicht? Wo soll es hinsteuern? Das kann sich von Zeile zu Zeile verändern. Zu Beginn habe ich meist nur eine Ahnung, in welche Richtung sich das Gedicht entwickeln könnte. Im Schreibprozess steuert es nicht auf ein festgelegtes, vorhersehbares Ziel zu, sondern führt über Verwerfungen, Umwege, Streichungen, Aha-Erlebnisse und Zweifel bis zu jenem Punkt, an dem ich es für ein gelungenes Gedicht halte – oder auch nicht. Es gibt Mängel-Exemplare, die ich zu einem späteren Zeitpunkt ändere und/oder vollende. Oder ihre Bruchstücke tauchen in anderen Gedichten auf. Manche faulen als lyrisches Fallobst in der Schublade vor sich hin.
 
Songtexte: Bevor ich anfing, Ende der 1990er Jahre Gedichte zu schreiben, habe ich Songtexte geschrieben. Texte von Bands wie Blumfeld, Einstürzende Neubauten, Die Sterne, Die Goldenen Zitronen oder Fehlfarben haben mich mitgerissen, ehe ich Lyrik von Grünbein, Benn oder Brinkmann für mich entdeckte. Die langjährige Primär-Prägung durch Songtexte spiegelt sich in meinen Gedichten in der Vorliebe für Sloganhaftes wider. Peter Hein steht mir jedenfalls wesentlich näher als Herr Gryphius.
 
Wann und warum ein Gedicht gelungen ist, finde ich im Grunde unbeantwortbar. Sicher lassen sich sinnvolle inhaltliche und formale Kategorien finden und aufstellen, auf die sich die meisten Lyrik-Experten als Gradmesser für Qualität einigen könnten. Ich bin allerdings skeptisch, wenn Kriterien und Aussagen über Lyrik einen Anspruch auf Objektivität behaupten. Zu stark liegt ein Gelingen oder Misslingen im Auge des Betrachters, bleibt subjektiv, abhängig von der individuellen Lektüre-Erfahrung, dem jeweiligen Bildungshintergrund, der Reflexions- und Diskursfähigkeit und -erfahrung sowie den eigenen Assoziationsräumen. Diese Faktoren bestimmen wesentlich den Zugang zum Text und was sich der Leser darunter vorstellen kann. Ich denke, dass viele Äußerungen über Literatur viel subjektiver sind, als sie vor sich selbst und nach außen scheinen wollen.
 
Auseinandersetzung mit der Welt. Einer inhaltlichen oder ästhetischen Programmatik folge ich nicht. Ebenso wenig habe ich eine eigene Poetik. Was klar ist: Gedichte und Songtexte haben für mich eine Ventilfunktion. Sie sind meine Ausdrucksmittel, um eigene Wahrnehmungen von Welt in den Fokus der eigenen Sprache zu rücken. Mich literarisch auszuformulieren. Es ist eine Selbstbehauptung und eine Auseinandersetzung mit der Welt. Meine Auseinandersetzung ist eine Suche nach Wahrhaftigkeit, Haltungen und Positionen.
 
Im Abgleich zwischen für mich wesentlichen Wahrnehmungen und dem, was von meinem sozialen Umfeld, Meinungsmachern und den Medien als relevant erachtet wird, suche ich nach einer eigenen Stimme und forme diese in den Texten. Letztlich geht es darum, aus vielen Puzzleteilen eigene Positionen, damit auch Identität zu behaupten, zu festigen, zu hinterfragen und zu verändern. Und daran zu wachsen. Ich folge dem Bedürfnis, mich in meinen Texten zu äußern. Wenn ich die Lücke zwischen eigener und anderweitig behaupteter Welt-Wahrnehmung schon nicht schließen kann, so kann ich die erlebten Widersprüche zwischen diesen Polen zumindest in Songtexten und Gedichten thematisieren. Sie bieten die Möglichkeit, Szenarios zu entwickeln, in denen Behauptungen, Abgründe und Phänomene in Frage gestellt, verfremdet, ironisch gespiegelt oder ad absurdum geführt werden können. Auf diese Weise werden diese Widersprüche zum Bestandteil einer Text-Wirklichkeit, in der sich meine Haltungen widerspiegeln. „Rendite, Rendite, Rendite / unsere Farben heißen Auto und Fleisch, Auto und Fleisch / zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten“ (Anfang des Gedichtes „Hereinspaziert!“).
 
In diesem Sinne ist ein Sendungsbewusstsein vorhanden, in dessen Kontext ich Sprache als Medium begreife und nutze; allerdings ohne ideologischen Überbau (obwohl manche Gedichte plakative Slogans oder Appelle enthalten). Gedichte, die PR für ein Weltbild oder eine Ideologie machen, sind selten gut. Gedichte sollten keine Träger eindeutiger, vor dem Schreibprozess intendierter Aussagen sein. (Ich muss allerdings zugeben, dass einige meiner Gedichte, wenn auch ironisch gebrochen, mono-perspektivisch und sehr eindeutig sind. Für Lyrik-Gourmets wahrscheinlich zu eindeutig und dadurch reizarm. Dafür sagt vielleicht meine Tante aus Fedderwarden: „Damit kann ich endlich mal etwas anfangen.“ Dabei schreibe ich weder bewusst für die Gourmets noch für meine Tante.)
 
Vielmehr geht es mir darum, mit meinen Texten den Finger in Wunden zu legen, die ich als solche wahrnehme. Mich stört zum Beispiel, dass bestimmte Begriffe in der öffentlichen Wahrnehmung (ob positiv oder negativ) zu eindeutig besetzt sind. Dies wird von Massenmedien in Deutschland unter dem Einfluss von Politik und Wirtschaft, Lobbyisten und PR-Strategen, gezielt gesteuert oder relativ unreflektiert übernommen und verbreitet.
 
Ein Begriff wie „deutsche Wirtschaft“ ist weiten Teilen der medialen Berichterstattung stets so besetzt, dass es positiv ist, wenn es der „deutschen Wirtschaft“ gut geht. Positiv für alle Einwohner, für alle Beschäftigten und überhaupt ein Grund zum Feiern. Ist das so? Wem geht es dadurch gut? Wer hat nichts davon und soll sich trotzdem darüber freuen und warum? Wem geht es außerhalb Deutschlands schlechter, wenn es der „deutschen Wirtschaft“ gut geht? Ich halte das Credo „Wenn es der deutschen Wirtschaft gut geht, ist das gut für alle in Deutschland“ für eine Behauptung, die oberflächlich und halbwahr ist und die sich auf einen Tellerrand beschränkt, der eine Wachstums- und Wohlstandsfixierung innerhalb der deutschen Grenzen propagiert. (Ein Phänomen, das sich auf viele Länder mit ihrem jeweiligen nationalen Blickfeld übertragen lässt.) Solche Fragen und Gedanken bilden den Hintergrund für folgendes poetisches Statement im Gedicht „leicht gesagt“: „(…) tagein und aus / fromme Fahnen in den Wind / die deutsche Wirtschaft/das Amen dieser Kirche“.
 
Lutz Steinbrück (Berlin, 18.2.2011)