lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2017
 
Anna Staffel
 
 
Gelesen am 28.5.2016 im ORI als Teil des Minotaurusprojektes
 
Florenz - Firenze!
 

Florenz - Firenze.
Celestine denkt Kreise.
Sie dreht sich als Sägeblatt und sägt sich selbst wund. Jetzt springt sie ab, vom Trittbrett des ICE’s, landet im Bahnhof von Florenz und hofft auf Stillstand und Ruhe – auf eine versöhnende Aussprache mit Magnus. Sie taucht in die uralte Welt Europas, in die Toscana Italiens und mit ihr laufen andere ankommende Europäer, Asiaten oder Florentiner, huschen wie Celestine unter dem Glasdach im Stationi di Firenze Santa Maria Novella über den Steinboden, holpern mit Gepäck, stolpern, laufen aus der Ankunftshalle, hinaus über die weite Fläche des Piazza Dela Statione, orientieren sich, laufen in Gruppen zusammen, positionieren sich neu, gehen ihren Absichten hinterher, beleben die Stadt mit Neugier - oder wie Celestine mit Angst und Hoffnung.

Celestine geht über die Via Panzani. Im Hintergrund strahlt die Kappe einer Tennisspielerin – sie stupst seltsam seelenlos an ihrem Schläger. Celestine dreht sich wieder um sich selbst – oder um eine Verlorene – aber ist die Tennisspielerin nicht einfach nur eine Person die sie früher einmal war? – die Siegerin auf dem Tennisplatz, die Führerin des Balles, nie die Gehetzte oder Geschlagene – und jetzt? – ist sie die Schwache? – die mutlose Verliererin, auf einem fremden Terrain? – das verwundete Antlitz, stolz und sogar wütend?

Celestine schlenkert ihre kleine Reisetasche – das Foucaultsche Pendel über den Asphalt der Via Cerretani. Licht-Schneisen schneiden die warme Luft zwischen alten Mauern und glänzenden Metallen, glühen Scheiben auf. Windströme blasen den Duft der Toskana in die Stadt. Wimmernde Vespas, Rhythmen unterschiedlicher Sprachen schwellen als kleine Radiosender an ihr vorbei – aber Celestine! – Sprachaufwallung – plötzliches Stottern – Sie hat noch keinen Rhythmus für Florenz, denn Florenz ist Magnus und Magnus spielt für sie in seinen Antiken Mauern die Antike der Moderne selbst, unaufhaltsam radikal! Er sagte einmal: „Als Künstler ist es meine Pflicht, Geheimnisse in Bilder umzusetzen!“ Sonst sagte er nicht viel. Er hatte seine Freude an den Erwartungen der Menschen, die er nicht erfüllen wollte.

Celestine vermutet sich schleichend, sie will Wissen warum sie wochenlang nichts von Magnus hörte. Jetzt geht sie Stein für Stein auszählend, über die Piazza di Santa Maria Maggiore, schaut in fremde Gesichter um sich selbst zu prüfen. So entdeckt sie Gleichmut in Gesten.
– Aber was sie sieht, gefällt ihr: „Perché no!“ Die Stadt straft weiß und stanzt schwarze Löcher; weiße Gesichter sehnen Blicke; Zwangskragen rufen mittig gekerbt zum – „Seemann – okay!“

Celestine befürchtet das Schlimmste. Ihre Ankunft wird gleichzeitig ihre Abreise sein. Einen Augenblick lang will sie umkehren, aber da ist ihr Tennisschläger, den sie zurück haben will. Jetzt biegt sie in die Via dei Castellani, steht vor seinem mächtigen Haus, lauscht hinein und springt endgültig in die Welt von Magnus.

Eine weiße Lichtkugel schwingt ihren Schein, glockengleich 12 Uhr. Haare flattern, schwarze Augen schauen neugierig: „Hallo Celestine – komm doch rein!“ Erstaunt ist sie im plötzlichen Anwesenheitsritual als „Persona non grata“ von seinem selbstverständlichen „Hallo“ umringt und aufgenommen – sogar willkommen! – „Ich wollte gerade Wein holen, trinkst du ein Glas mit?“ – „Ja gern!“

Sie gehen zum ersten Mal gemeinsam die schwarzen Steintreppen hinab in den riesigen unübersichtlichen Keller. Dort stehen rot glühende Weinflaschen. Sie schnuppern Korken bei geöffneten Fenstern. Magnus sucht zwei bestimmte Flaschen aus, ohne zu sprechen. Sie hört auf das Stapfen seiner Schritte. Ein Albatros nimmt erstaunlich langsam, aber kräftig die Stufen. Genauso liebte er sie. Sein Körper schwebte in einer ruhigen Gewalt über ihr, Stufe um Stufe Bewegung, 5 Etagen.

Zu viele Hotelzimmer stehen still. Weißes Licht kriecht raupenartig auf Lehnen. Magnus schlurft große Gummischlappen durch sein Atelier, schnüffelt Terpentin und verschraubt seine Flügel zu Engel Gabriel im Deckenfirst oder verschreckt Albrecht Dürers Aristokratengesicht! Magnus blickt in eine Vorstellung, in eine Schicht seiner verwirrten Erinnerung an eine Muse, die er meint „Nur sie jemals lieben zu können“, und das ist der Grund warum er sich nicht gemeldet hat. Das alte Gefühl hat ihn überrascht und stand ihm zwei Wochen Model.

Celestine reißt sich zusammen. Sie hatte so etwas erwartet, aber die Wahrheit brummt in ihrem Schädel und löscht Bild für Bild Hoffnung. Jetzt muss sie gehen. Doch sie bleibt. Ihr Nachsinnen bohrt in tiefe Gewässer des nahe gelegenen Flusses. Sie möchte hinein springen und für immer abtauchen – nicht wegen Magnus, einfach nur um nicht länger sinnlos herum zu sitzen. Aber sie ist zu müde. Er schaut auf: „Bleib doch!“ Im Hintergrund surren Fliegen und gurren Tauben wie Liebhaberinnen. Aber warum sollte sie bleiben? – weil er sie liebt? Er lehnt sich gelassen zurück: „Es tut mir leid, ich habe sublimiert! - es gibt keine andere!“ Er zieht ängstliche Augenbrauen: „Bitte gehe nicht!“ Er kann sie erweichen, sie klebt an seiner Stimme. Sein Brummen liegt dicht an ihrer Kopfhaut.

Sie erinnert sich an unzählige zärtliche Berührungen, meistens mittags oder nachmittags, wenn der Kaffee den Alkoholspiegel ablöste. Sie küssten sich endlos und schälten sich langsam aus ihren Kleidern. Sie war oft zu ungeduldig. Uffizien bei Nacht. Magnus greift seinen grauen Arbeitsmantel, teilt den Mond, wischt den kleinen Tisch, das graue Stilleben mit einer Armbewegung über das halbe Jahrhundert. Sie spürt sein nervöses Wahrnehmen, ein Zittern – und jetzt?

Magnus zieht aus seiner Hosentasche ein Bündel Geldscheine. Er geht zum Kühlschrank, legt die Scheine in die Butterschale und kommt zurück an den Tisch. „Wir wohnen zu weit von einander entfernt. Ich habe nicht die Kraft diese Distanz zu überwinden. Entweder du kommst nach Florenz oder ich ziehe zu dir nach Berlin!“

Celestine steht auf, streift durchlöcherte Skulpturen, geht weiter, begegnet Magnus selbst entworfenem Gehirn mit Stadt- und Landschaftsplanung, Gärten, Straßen, Windrichtungen... Lila-No-No-Finger!!? - oder roter Hutkrempen-Flug? Magnus blättert mühelos Mixed Media mit Zungen-Rausstrecker Qualität: „Winke, Winke!“ – seine Augen! – glotzen Farbwürmer-Schock. Er kriecht hinter einer verbeulten Aluminium-Katastrophentreppe hervor, springt auf, und kickt seine Handschuhe in die Luft: „Was hätten’s denn gern? – Henkerseil oder Rettungsring? – das Ei des Kolumbus?“ Celestine kann nicht lachen. Eine große Unruhe drängt sie zum Absprung. Sie will aus Magnus Leben verschwinden aber sie bleibt regungslos und stumm. Der Geruch der alten Stadt vermischt sich mit dem Geruch zu viel getrunkener Gläser. Ihre Körper krümmen sich darum.

Im Morgengrauen verkriecht sich Magnus wortlos in seinem Bett. Celestine liegt mit geballten Fäusten fast ohne Schlaf bis zum Kirchenläuten auf dem Sofa. Sie schleicht sich auf die Toilette und entdeckt Magnus. Er schnappt ein Haarspray vom Fenster und besprüht damit Fliegen im Flug! – Sadist! – „Magnus du bist ein Sadist!“
Celestine greift ihre Zahnbürste, umklammert sie schützend, und verschwindet leise die Treppen hinunter, mehr schleichend auf Samtpfoten, nicht traurig sondern nüchtern. Und bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fallen kann, springt sie zurück in den Hausflur, versteckt sich und hört auf Magnus. Aber er kommt nicht.

Die Kellertür steht offen. Sie schleicht die Steintreppen hinab in die Katakomben der Stadt, Stufe um Stufe, in eine Kelleranlage hinter Regalen. Warum dieser Gang ohne Magnus im Keller? – ohne sein Wissen? – Hat er nicht die Kellertür sonst stark verriegelt? Sie umrundet den feuchten Weintraum, was war dahinter? Welches Geheimnis ist so groß, dass Magnus niemand allein Wein holen lässt? - nur heute nicht.

Sie kommt sich vor wie eine Frau die nach dem Tod ihres Mannes seine wahre Identität erfährt. Im Halbdunkel lagern Stoffe über Stuhllehnen, die Polster zerfressen, Vorhänge säumen Hochregale, verhangen mit Spinnweben und leichter Bewegung im Stoff, als ob ein Fenster offen steht, hinten im tiefen dunklen Loch. Der Keller ist nicht nur Keller,
er führt auch noch irgendwo hin!

Celestine erinnert sich an eine Falltür, Worte wie „Versteck“ oder „Vorsicht“ aus Magnus Mund in ein Telefon gerichtet. Dorthin sollte etwas gebracht werden – nur wo ist das Verlies? – Sie tastet vergeblich nach Lichtschaltern. Roter Sandstein bröselt Stein-Grieß, dahinter stapeln Kisten und verrostete Kerzenständer – mit Kerzen! Celestine zündet sie an und schaut in das Perfekte Gruselkabinett. Wird sie schon erwartet? Die Kerzen flackern im Luftzug. Sie stößt die Kisten zur Seite. Verschiebungen balancieren hinter ihr und die Kerzen werfen Riesen an die Wand, tief unter der Erde oder nur 5 Meter? – tief genug für Geheimnisse hinter einer Wand und unter dem Boden. Was tut sie hier? – Hörnerwesen springen Schatten von den Wänden. Tatsächlich hängen Tiermasken und Stierschädel, auch Felldecken an den Wänden. Ein ungeheurer Verdacht auf Verwesung, Feuchtigkeit und Spinnen. Magnus aus Stein, ein Ebenbild am Ende einer Nische, mit Hörnern! Minotaurus Magnus bewacht seinen Keller! – nicht nachdenken, nicht weitergehen, sondern einfach zurückgehen!

Am Anfang waren es die dunklen Augen-Schatten und sein verschwiegener Blick der sie verunsicherte. Celestins Arm erlahmt mit dem Gewicht des Kerzenständers. Sie blickt in Ledermasken, sehr alte Masken aus der Antike, obwohl das nicht sein kann und die Masken Rekonstruktionen des Originals sein mussten. Aber warum lässt sie Magnus hier unten verrotten? – ist das sein Geheimnis? Celestine steht vor dem Ende des Ganges, stellt die Kerzen ab, scharrt über den Boden, hört Holz und Eisenbeschläge unter ihren Füßen und greift nach einem großen Eisenring. Sie zieht mit aller Kraft die Verlies-Tür hoch und stemmt sich mit ihrem Körper dagegen, bis die Falltür übergewichtig aufklappt und mit einem lauten Schlag auf den Rücken fällt. Ein beißender Leichengestank strömt ihr entgegen.

Magnus steht plötzlich hinter Celestine, zieht eine Minotaurus-Maske über das Gesicht und lacht: „Was willst du? – ich gebe dir alles zurück, es soll dein Schaden nicht sein, mit einem Hornochsen wie mir das Bett geteilt zu haben.“ Celestine weiß jetzt nicht mehr was real ist. Magnus wirft ihr einen Tennisschläger an den Kopf, aber nur weil Celestine zu steif, zu perplex, in eine Statue ihrer selbst erstarrt. Aber gleich sieht sie ihr bestes Tennis-Stück und rettet sich auf das French Open Tennis Turnier von 2008:
Mit einer Rückhand schlägt sie den Ball – damals wie heute – brutal zurück! Magnus fällt in die Knie.

Im Center Courd schwitzen tausend kleine Punkte die Entscheidung des Tennis-Turniers heran. Celestine lauert auf ihre Gegnerin, antwortet mit einem Volley, fühlt sich leicht, leicht, leicht! – sie will die Gegnerin durch ihr leichtes Gewicht überwinden. Sie springt wie eine Feder über den Platz, erwischt den Ball, großartig! – „plopp!“ – kurz nach dem Netz fällt der Ball. Doppelfehler. Jetzt ist sie dran. Sie drischt den Ball auf die letzte mögliche Kante – kein aus! – jetzt jagt sie, die blonde Tennisriesin vor sich her: Topspin, Slice, Topspin, Slice, Smash! – jetzt hat sie ihre Gegnerin in der Zange! – das Publikum schreit! Sie sieht nur noch den Ball. Reaktion folgt auf Reaktion. Sie und ihr Schläger surren über den roten Staub. Knallgelbe Kugeln zischen. Ein letzter Volley – Celestine's Beine laufen um ihr Leben. Die stickige Luft aus dem Keller-Labyrinth verliert sich mit jedem Schritt.

Celestine läuft über die Piazza de la Signorina, steht vor Michelangelos David, schaut in den weiß fließenden Marmor und hört die Sirenen der Polizei - zuerst leise, dann laut.

Die Menschen stoben nervös auseinander oder drängen sich sensationslüstern den Polizeiautos hinterher, reißen ihre Augen und Ohren auf oder verschwinden in den Gassen und Cafés. Celestine streckt ihren langen Hals, überfliegt den Platz und zieht vom Ort des Geschehens Kreise bis zum zweiten Michelangelo – die Kopie Davids.