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lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik |
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Stephan Seidel |
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literaturlabor 13.08.2006 |
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Mein Geschenk |
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Es regnete und ich hatte die Kapuze vergessen. Die zum anstecken. Die
ich zu Weihnachten von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte. Von meiner
Mutter, der alten Schlafwandlerin, und von meinem Vater. Das stand auf
einem der Pappschilder, die meine Mutter immer an Geschenke klebt. "Zu
Weihnachten von deiner Mutter, und deinem Vater." Diese rote Kapuze
hatte ich vergessen. Sie lag im Kleiderschrank, eingepackt in das Geschenkpapier
mit den Glocken und Rehen drauf, dass auch im Schrank unter der Eckbank
in der Küche meiner Eltern liegt. Seit 10 Jahren vielleicht. Es wird
nicht alle. Es wird nicht alle, denke ich manchmal, wenn ich es wieder
sehe, wenn ich zu Weihnachten meine Geschenke auspacke, weil ich meine
Eltern besucht habe. Oder wenn ich weit hinten in meinem Kleiderschrank
darauf stieß, auf das Päckchen in der die Kapuze war, wie letzte
Woche, als ich es herausholte und das Pappschild abriss. Die rote Kapuze
erinnerte mich sofort an einen Film, den ich früher zu meinen Lieblingsfilmen
zählte, als ich sie das erste Mal sah. Ich sah sie das erste Mal
als ich sie auspackte aus dem Papier, das ich vorhin erwähnte. Sie
erinnerte mich an diesen Film, den ich sehr mochte, aber auf dessen Namen
ich nicht kam. Ich wusste aber doch, worum es ging, und was ich so an
ihm mochte, und vor allem, das war das erste, das mir einfiel, dass der
englische, also der Originaltitel, eine ganz andere Bedeutung hatte als
der deutsche, den alle kennen, der mir aber ebenso wenig einfiel wie der
Originaltitel. Ich hatte sie vergessen, in meinem Kleiderschrank aus Eichenholz.
Dabei hatte es geregnet, und ich hätte sie gerne anprobiert. Es war
höchste Zeit, nach sechs Monaten und ein paar Tagen. In dem Film
hatte ein Mädchen die rote Kapuze auf dem Kopf, das gleich zu Filmbeginn
starb. Sie hatte die Kapuze auf dem Kopf, und es regnete gar nicht. Und
trotzdem ertrank sie im Teich vor ihrem Haus und dem ihrer Eltern.
Es hatte geregnet an dem Tag, am 17. Juli, ein Sonntag, als ich aus dem
Haus ging, und ich hatte sie vergessen. Ich hätte sie gern anprobiert,
aber vergaß sie, wie so oft, wenn ich aus dem Haus ging und es regnete.
Ich hab darüber nachgedacht, wie ich sie so oft vergessen konnte,
und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich manchmal ganz gern aus dem Haus
gehe, wenn es regnet. Ich mag es, wenn meine Haare und mein Gesicht nass
werden, nicht so, wie wenn man sich früh wäscht und Wasser ins
Gesicht klatscht, sondern, wenn es Tropfen für Tropfen, ganz langsam
oder bei starkem Regen ganz schnell, aber auch Tropfen für Tropfen
nass wird. Aber ich glaube, den leichten Regen, den mag ich noch mehr.
Das wusste meine Mutter nicht, als sie sich entschloss mir die Kapuze
zu Weihnachten zu schenken, als sie sie im Kaufhaus am Markt das erste
Mal sah, als sie vor ihr und den anderen Kapuzen stand, als sie sie an
der Kasse bezahlte und als sie das Pappschild am Papier mit den Glocken
und Rehen anbrachte. Obwohl sie gar nicht so schlecht lag, und mein Vater
auch nicht. Ich fand sie sofort schön, aber wenn es regnet und ich
das Haus verlasse, dann freue ich mich fast auf den Regen, so dass es
eigentlich kein Wunder ist. Dass ich sie auch an dem Sonntag vergessen
habe.
Und als ich nach Hause kam, mit nassem Haar und nassem Gesicht, da war
mein erster Gang zum Kleiderschrank. Ich trocknete meine Hände an
den Pullovern, die davor lagen und nahm das Päcken heraus, das ich,
gleich nachdem ich es von meiner Mutter bekommen hatte, wieder verschloss,
mit dem Klebeband daran, das noch so frisch war, dass keine Papierreste
vom Öffnen dran klebten und ich es wieder verwenden konnte. Ich nahm
das Päckchen aus dem Kleiderschrank und riss das Pappschild ab, nachdem
ich es noch einmal gelesen hatte. "Zu Weihnachten von deiner Mutter
und deinem Vater".
Meine Mutter war wieder umgekippt, im Schlaf in der Wohnung rumgelaufen
und dann umgekippt. Mein Vater war ihr noch vorsichtig gefolgt, hat sie
nicht wecken wollen, weil der Arzt gesagt hatte, er soll das nicht, und
dann hat sie etwas gesagt, wovon er sich heute nicht mehr sicher ist,
ob er es richtig verstanden hat, und dann ist sie umgekippt. Mein Vater
hat ihr sozusagen dabei zugesehen, weil er vorsichtig genug war, ihr nicht
zu nah zu kommen, als er sie verfolgt hat. Meine Mutter lag also im Krankenhaus,
nicht schlimm, aber sie lag da nun mal und schlief viel ohne rumzulaufen,
und ich erinnerte mich, dass sie mir ein paar Tage zuvor gesagt hatte,
ich solle Annas Geburtstag nicht wieder vergessen. Anna, meine Cousine,
erst sieben, hat auch so eine Jacke, wo man Kapuzen dran stecken kann,
wusste ich. Also hatte ich ein Geschenk. Ein sehr schönes, worauf
ich sehr stolz war, und da meine Mutter im Krankenhaus lag und mein Vater
nicht an den Geburtstag seiner Nichte denken würde, brauchte ich
mir keine Sorgen zu machen, dass einer der beiden mir Vorwürfe machte,
ein Geschenk zu schenken, das man schon selbst geschenkt bekommen hatte.
Aber weil ich Anna so mag, dass ich niemanden dabei haben wollte, wenn
ich ihr mein Geschenk gebe, nicht einmal ihre Mutter, also meine Tante,
rief ich sie an, denn telefonieren darf sie schon, und machte mit ihr
einen Termin aus. Termin, das ist ihr Lieblingswort. Wir trafen uns an
der Bushaltestelle, an der sie immer aussteigt, wenn sie von der Schule
kommt. Da wollte sie den Termin mit mir. Und ich glaube, sie hat sich
gefreut, über die rote Kapuze. Ich glaube ja. Sie hat sie nämlich
gleich anprobiert und aufgelassen als wir uns verabschiedeten. Obwohl
es gar nicht regnete.
Sie ist dann auf den Dachboden gegangen, weil die Tür offen stand
und die sonst nie offen steht. Und Anna deshalb auch noch nie auf dem
Dachboden war. Sie stand offen, weil Herr Gruner, den ich eigentlich gar
nicht kannte, aber dessen Namen ich mir jetzt gemerkt habe, dort etwas
gesucht hat, etwas, das er aber nicht finden konnte, weil es nicht da
war. Ein Verlängerungskabel, das er dann im Keller gefunden hat.
Und weil er also nicht mehr länger oben, auf dem Dachboden suchen
brauchte, ist er wieder hoch und hat ihn abgeschlossen. Und Anna muss
das nicht gehört haben und hat dann wohl um Hilfe gerufen, wahrscheinlich
geschrien und geweint, aber niemand hat sie gehört. Und als sie das
Dachfenster, das ein wenig geöffnet stand, weiter öffnen wollte,
ist sie raus gefallen.
Das hat mir mein Vater erzählt, der Bruder meiner Tante. Und ich
habe gedacht, wie man so sagt, da erlaubt sich jemand einen Scherz mit
einem, mit mir. Er erlaubt sich einen schlechten Scherz mit mir, einen
sehr, sehr schlechten, überhaupt nicht komischen, aber das hat er
nicht.
Ich hab sie gesehen noch einmal, in dem Sarg, denn ihre Mutter, also meine
Tante, wollte einen. Und sie lag da drin, links der Kopf und rechts die
Füße und war sehr schön, auch ohne die Kapuze, und es
war auch gar nicht nass da drin, gar kein Wasser. Es war auch ein schöner
Sarg aus Holz, vielleicht Eiche, ich weiß nicht. Ich habe nicht
gefragt. Wenn ich jetzt an Anna denke, sage ich mir immer, sie ist nicht
ertrunken. Aber es tröstet mich nicht. |
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