lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Nora Schmidt
 
 
literaturlabor 29.01.2006
 
Alles fehlt
 
Thierry hatte sich die Haare kurz geschnitten und war über dieselbe Autobahn nach Agen gefahren, die ein paar Wochen zuvor die Kulisse eines französischen Popsongs ( wenn schon Pop, dann auch Song, Poplied geht ja nicht ) gewesen war, in dessen Musikvideo Christine und Thierry im Auto saßen und Zeitlupenlachen lachten. Wie im Film gestikuliert, die Brauen hochgezogen, in orangefarbenen Tshirts, die Buddha zeigen, barfuß das Gaspedal getreten, in den Werbepausen Kaffee trinken auf einem Air de repos, sich selbst im Rückspiegel des anderen betrachten, überprüfen, ob der Wind in den Haaren noch sitzt. Und als der Vorspann abgelaufen war, der Wagen hielt, fanden zwei Protagonisten sich ausgesetzt, alleingelassen mit dem öden Zwang, das Geträller fortzusetzen, dem bereits in der vierten Strophe die Worte fehlten. Stopp, spätestens hier würde jeder Regisseur unterbrechen.

Wie so was anfängt, kann man sich vorstellen. Man muss sich einen Rucksack vorstellen und hinter den Zähnen des Reisverschlusses ein Wörterbuch und zwischen den Seiten des Wörterbuchs liegen Briefe. Schöne Briefe hatte Christine von dem schönen französischen Dichter bekommen, an den sich zu erinnern süß war wie das Wissen darum, dass das Leben eben doch ein Roman sein musste, das eigene wenigstens. Und damit die Geschichte weiterginge, wie es sich gehörte, musste das junge deutsche Mädchen nach Bordeaux per Anhalter fahren, um dort den Schreiber dieser süßen Briefe zu treffen, mit dem zusammen es um nichts ginge als um die nächste Seite. Dass Christine in Bordeaux nie ankommt, stört sie nicht. Jeder, der sich erlaubt, einem Buch den letzten Satz vorwegzunehmen weiß, dass der letzte Satz der bleibt, den man als letzten liest. Und Entscheidungen fallen leichter, wenn Christine sich auf die Perfektion dieses letzten Satzes verlässt, den Weg nach Agen, den der Masseur (nicht viel besser als ein Dichter?) Thierry mit ihr zusammen im Auto einschlägt für den richtigen hält. Und im Haus seiner Mutter konnten Thierry und Christine sich dann verlieben. Zwischen Essig und Salz gehören Tomaten und zwischen zwei Zigaretten breiten sich Gedanken an kommende Tage aus, die nicht in den Salat gehören. Auch wenn Christine sich die Hände trocknet, bevor sie das Telefon abnimmt, ist längst nicht alles in Ordnung, aber Thierry ja bei ihr und sein Auto, mit dem man bis nach Hamburg fahren kann, zusammen, von jetzt an immer, wenn Christines Großmutter krank wird und man helfen muss. Das muss so sein, ist alles gut so, wo bliebe sonst der Konflikt?

Über den Kiesweg, die Terrasse hinauf, musste die Großmutter getragen werden. Drei Minuten, in denen die Gartentür offen stand und trocken gehustete Luft aus der Stube nach draußen quoll, was die Großmutter sonst kaum duldete. Ihren Körper legte Christine auf Wolldecken ab, zog beide Schuhe von nach innen verdrehten Füßen, trat mit dem eigenen die Stehlampe an, stemmte die auf dem Teppich liegenden Gitterstäbe gegen das Bett, schob Dübel in Löcher mit der gleichen schuldbewussten Zärtlichkeit, mit der man Hunde in Ketten legt, die versehentlich, wie man nur selber weiß, den Postboten beißen.
Da liegt ein Wolf im Bett, der liebt, sich zu verkleiden. Da liegt ein fiebriges Kind mit Keuchhusten und Windpocken und Schlaganfall, das spricht noch nicht so gut mit seinen 87 Jahren aber spielt heute die Rolle der Prinzessin. Eine aus China, die kann natürlich niemand verstehen. Die trägt viel Puder im Gesicht und rote Lippen, die sie spitzt. Christine flicht das königliche Haar, holt den gelben Lampenschirm, der züngelnde, schwerelose Drachen zeigt, die fliegen um den Turm herum, in dem die Prinzessin in Seidenkleidern liegt, ein Frottehandtuch neben dem Gesichtchen, damit die Schminke bloß nicht auf das Sofa kleckert. Es ist ganz dunkel, nur das Feuer aus den Mäulern der Drachen, die immerzu fliegen, im Kreis herum. Dann kommt eine Hochzeit und ein Krieg und eine Hungersnot kurz vor dem Abendbrot mit saurer Gurke. Jetzt, denkt Christine, wäre es doch Zeit mit dem Spielen einmal aufzuhören. Sie knipst die gelbe Lampe aus und wischt die weiße Farbe von der Nase, den Lippen, den Augenbrauen fort, wischt länger als es nötig wäre und holt sogar noch duftende Creme, mit der sie Hände und Gesicht bestreicht. Unter ihren Handflächen der Atem, der flattert vor Erschöpfung. Kämmt sorgfältig das Haar, öffnete den Kragen des Nachthemds, krempelt die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch und salbt und streichelt und sucht auf der schwarzweißen Hautfläche und in den Armbeugen, schließlich den Kniekehlen und dem Haaransatz entlang, bis es dort kein Fleckchen mehr zu finden gibt, das nicht geschmeidig glänzt wie Bratenfett, das noch nicht nach Gänseblümchen riecht und Alkohol und leer und offen steht, wie ein ehemaliges Schulzimmer, wie ein zum Schweigen gebrachter Mund oder eine gestohlene Idee, die man selber nie verstehen würde. Aber weich ist das Fell immer hinter den Ohren. Zwischen Christines Fingern liegt ein Flaum. Die Haut von den Knochen abgetrennt, so wachsen die Haare nicht mehr. Zwei runde aufgesetzte Augen aus Keramik liegen blöde in dem toten Tiergesicht herum. Das Maul behauptet, beißen zu wollen, lässt Speichel rinnen, will nicht schlucken. Tabletten liegen unzerkaut auf rauer Zunge, lösen sich zu fettigem Gewürz, das rinnt die Mundwinkel hinab und sammelt sich in grob gestutzten Schnurrbarthaaren. Ein Gesicht, das einfach abzuwischen geht, denkt Christine, ein Körper zu Tode gesalbt.

Im Fernsehen tanzten Pärchen zu den gleichen Melodien. Am Nachmittag kam ein Auto. Christine konnte die Reifen über den Kiesweg kratzen hören. Der Rucksack war schwerer auf den Schultern, denn es war jetzt Herbst, da trägt man nicht nur kurze Hosen.