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2008
 
Angela Sanmann
 
 
Worte sind Wasserläufer - Poetologische Notizen
 
[Wasserläufer: Landwanzen, die auf Gewässeroberflächen leben und sich schnellend darauf fortbewegen oder langsam schreiten. Sie haben ein so geringes Gewicht, dass die Oberflächenspannung sie trägt.
[Der Brockhaus, Bd. 10, 2005]]
 
Dienen die Eigenschaften des Wasserläufers hier als Ausgangspunkt für ein Nach-denken über das Schreiben von Gedichten, so bemühe ich nicht einfach eine Metapher aus dem Tierreich herbei, um meine eigenen Gedanken einzukleiden. Vielmehr erlaubt der Verweis auf dieses Insekt eine versuchsweise konzeptionelle Deutung des Schreibaktes, seiner Ziele und seiner Notwendigkeiten.

Meine Überlegungen lassen sich anhand der Gedichtzyklen berlin. (un)gleichzeitiges und gänsehaut. passepartouts exemplarisch nachvollziehen. Der eine setzt sich mit der Stadt Berlin und ihrem ständigen Wandel auseinander, der andere mit der Kindheit oder dem, was man sich darunter vorstellt, wenn man erwachsen geworden ist.
In beiden Textgruppen wird Oberfläche thematisiert, problematisiert. Die Worte be-tasten die Oberfläche, den Schein, das alltägliche Gesicht der Gegenstände, gleich dem über die Wasserfläche laufenden Insekt. In seinem Lauf befindet sich das Insekt weder im Wasser, noch über dem Wasser, sondern es hält an der Grenzlinie zwischen beiden Elementen eine fragile Spannung aus. So auch das Wort. In dem Moment, in dem ein Wort im Gedicht auftaucht, erhält es durch seine Präsenz einen ebenso prekären wie herausgehobenen Status. Es hat sich aus seinem gebräuchlichen und von ihm Gebrauch machenden Umfeld gelöst und gehorcht nun hier, an der vibrierenden Oberfläche der Dinge, einer ihm eigenen Logik. In seiner Dynamik vermag es das Wort im Gedicht, die unterschwellige Tiefe der Dinge freizulegen (ich denke dabei an Hofmannsthals Wort von der an der Oberfläche versteckten Tiefe, wenn auch in einem weniger affirmativen Sinn):

Betrachtet man einen über die Wasseroberfläche schnellenden Wasserläufer aus einem bestimmten Blickwinkel, so bilden sich dort, wo die Insektenfüßchen das Wasser berühren, überdimensionale Schatten. Sie zeugen von den Vertiefungen, die selbst das geringe Gewicht dieses winzigen Tiers auf der Wasserfläche entstehen lässt. Auch die Worte im Gedicht hinterlassen Spuren in der Außenwelt, an den Dingen, derer man jedoch nur gewahr wird, wenn man die Perspektive wechselt.
Die Bewegung des Wortes ist ein tastendes Berühren. Was nicht zu erklären ist, wird nicht erklärt, höchstens als solches aufgerufen und ausgestellt. Im Medium des Films denke ich dabei an die Ästhetik von Michael Haneke (vor allem in seinem Algerien-Film Caché). Im Verzicht auf klar umrissene Deutungsangebote entdeckt Haneke die Möglichkeit von Erkenntnis, die über simple Erklärungsmuster hinausgeht. Auch Gedichten geht es um Erkenntnisgewinn. Allerdings nicht in einem objektivierbaren, festschreibbaren Sinne.

Die Gedichtzyklen berlin. (un)gleichzeitiges und gänsehaut. passepartouts wagen diese Erkenntnissuche, indem sie verschiedene Sprach- und Realitätsebenen in eins setzen: Träume, Erinnerungen, Vorstellungen (in gänsehaut. passepartouts), wie im folgenden Text:
 
 
kindeln II

eskimo spielen • in der nacht • kissen und decke wegstoßen • bis einem kalt genug ist • ein schmales bündchen aus frottee • dafür hat deine mutter zu sorgen dass • bahlsen afrika • ein prickeln nahe am reißverschluss • ein ziehen und dann • die schritte erraten • auf der treppe vorbei an der tür
 
 
oder Reflexionen, Beobachtungen, inter- bzw. intratextuelle Bezüge (in berlin. ungleichzeitiges):
 
 
hütten, paläste

winter · aufgeschwemmt · ein pfeiler stakt in die nacht • stochert zwischen eisenzähnen • lässt tief blicken · in bronzespiegeln kreist noch immer ein restaurantgast vom turm gegenüber • sieht quer durch die stadt • bahntrassen · glas spannt sich auf • von träger zu träger ·  spannt zwischen hier und dort ·  schleifung sagt jemand • rückbau ·  ein zweifel schwebt· fällt· lotet aus
 
 
Anhand der unterschiedlichen logischen Systeme dieser Ebenen entwickeln sich sprachliche Strukturen. Meine Gedichte wollen Geschichten erzählen, ohne sie zu erzählen, eine Melodie anklingen lassen, ohne sie auszuführen. Besonders wichtig ist mir die Figur des Apokoinu, das heterogene, ja gegenläufige Aussagestrukturen kurzschließen kann:
 
 
                                     hinab ins allein · gemensch gestimm • was fehlt • spricht • gegen bereifte u- bootscheiben • milano • welcher hafen   ·   gemeint war auch immer • ein abstand zwischen den blicken · gepflockt • unters lid unters müde
(aus: berlin. tegel)
 
 
Das von Mandelstam und Celan geprägte Motiv des Gedichtes als Flaschenpost, die ihre prekäre Botschaft ins Ungewisse und an Unbekannte hinaus sendet, scheint mir heute so aktuell zu sein wie je.

Der Titel des Zyklus berlin. (un)gleichzeitiges lehnt sich an Ernst Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit an. Die darin versammelten Gedichte versuchen, auf den ihnen eigenen Wegen der Stadt ein wenig von ihrem Jetzt abzutrotzen.

Im Zyklus gänsehaut. passepartouts hingegen loten die Texte die Spannung zwischen Erleben und Erinnerung aus, zwischen einer unmittelbar gelebten Szenerie und dem Rückblick aus der Distanz, zwischen dem Sichhineinversetzen-Können in den Kinderblick und dem gleichzeitigen Entfremdetsein-Müssen, zwischen den Wahr-nehmungen (von Stoffen, Gerüchen oder Geschmäckern) und den daran an-schließenden Gedankengängen – diese beiden Pole treffen im Text aufeinander:
 
 
kindeln I

ausgegraben  •  im sandkasten die dinosaurier  • schlamm  quillt aus den gummimäulern • auf der straße: mündchen zu • ein kind heitswort • wie rabenhorst rot bäckchen schneeweißchen • der nasse sand verklebt den nicki- stoff am ärmel • in der tasche schmilzt ein milky way  •  aus dem gelben buch die zeichnung eines verwundeten triceratops
 
 
Die passepartouts verstehen sich als immer neu ausfüllbare Rahmen der Evokation und der Erinnerung bzw. des Sicherinnern-Meinens, das in Wirklichkeit eine nach-trägliche gedankliche Struktur aufgrund von Erzählungen anderer darstellt. Im passepartout konkretisiert sich aber auch die Möglichkeit eines jeden Gedichts an sich, der Freiraum, dessen es bedarf, um zu entstehen, ein Freiraum, der aber auch leer bleiben kann und manchmal, oft, leerbleiben muss (wie es Rilke in seinem Brief an den jungen Dichter anmahnt).
Im Akt des Ineinssetzens verschiedener Wahrnehmungsebenen will und muss Lyrik auch in einem gewissen Sinne politisch sein: Sie vermag sowohl den Schreibenden als auch den Lesenden zu sensibilisieren, seinen Empfindungsradius zu erweitern. Ich glaube weniger an die agitatorische Macht explizit politisch gefärbter Texte als vielmehr an die subkutane Wirkung des lyrischen Wortes, die ein Innehalten und Aufmerken provoziert. Und das wäre schon viel. Das Gedicht stellt sich hinein in den Fluss der Zeit, aus der es entsteht und von der es umspült wird. Es will ein Zeugnis abgeben, eine Wegmarke sein, den Fluss einen Moment etwas langsamer fließen lassen: Es lässt einen zurückschauen und vorausblicken. Von dieser Notwendigkeit des Innehaltens angesichts aktueller politischer oder menschlicher Katastrophen sprechen Celans Verse aus dem Gedicht Du liegst im großen Gelausche: Nichts/  stockt. Und auch Günter Eichs Bojen oder Enzensbergers Fahrpläne weisen in diese Richtung.

Im Gedicht lässt sich der das menschliche Leben bestimmende Zufall und der ihm innewohnende Sinnverlust versuchsweise konturieren und aushalten. So verstehe ich auch Ilse Aichinger, wenn sie sagt: Schreiben heißt sterben lernen.