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Jörn Sack
 
 
literaturlabor am 30.08.2010
 
VOR UND NACH BELLINZONA
 
Seit die Seuchen besiegt sind, plagen uns Volkskrankheiten. Griesgram hat den Schrecken abgelöst. Doch Urängste zu wecken, ist leicht: Vogel- und Schweinegrippen branden serienmäßig auf in den Medien. Sterbende Schwäne auf Rügen flattern mit letzter Kraft in die Wohnstuben. Zehntausende gekeulter Säue in Ägypten stapeln sich als Opfer eines alten religiösen Konflikts, bevor sie vor unseren Bildschirmaugen in Rauch aufgehen. Andere werden lautquiekend vergraben. Wir leiden derweil an Rückenschmerzen, Wadenkrämpfen in der Nacht, Fett- und Magersucht, Verstopfung, Gedächtnisstörungen und vor allem – Depressionen.
Ich bin kein Mediziner, habe von Ärzten nie viel gehalten. Weil ich immer daran denken muss, wer aus meiner Klasse Arzt geworden ist, beäuge ich jedes Praxisschild mit Misstrauen und mache einen Bogen darum; aber ein Mittel gegen Depressionen wüsste ich wohl für den, der’s braucht und sucht. Seit Abenteuerreisen nach Feuerland und in die Mongolei junge Intensivtäter sozialisieren helfen, hab ich keine Scheu, es den Krankenkassenanzuraten – nicht obwohl, sondern weil sie gebeutelt sind: Eine Bahnfahrkarte Zweiter Klasse von Zürich nach Mailand. Wem die nicht hilft, dessen Behandlung sollte man als hoffnungslos einstellen und Kosten sparen. Den Glacier-Express oder andere Anti-Depressiva braucht man erst gar nicht mehr zu versuchen
Es sind nicht einfach Bilderbuchlandschaften, die am entzückten Auge Meter für Meter vorbeiziehen, kaum dass der Zug angefahren ist, die Stank und Lärm der Mitreisenden wegzaubern. Hier haben die vier klassischen Elemente der Griechen Frieden miteinander geschlossen - und mit dem Menschen dazu. Und er scheint – unglaublich - die Schönheitder Natur zu achten. Wie oft bin ich nicht von ernsthaften Dichterinnen wegen meiner Vernünftelei als Ökonomist abgetan worden – aber ich stehe dazu, versinke darüber nicht in Depressionen. Sie haben recht. Und deshalb hüpfte mir das Herz nicht nur beim Schauen, sondern weil ich zugleich daran dachte, dass ich nur den Fahrpreis bezahlt hatte, währenddas wunderbare Draußen sich mir ganz kostenlos darbot. Führe ich von Wanne-Eikel nach Gernersried, bezahlte ich ebenso viel, ohne dass mir so wohlig dabei würde, als läge ich mit Sigrid im Bett.Besonders in den langen Tunneln. Wenn das Dunkel die Lichtfülle mit einem Schlag wegwischt, um sie bald wieder neu und anders erstehen zu lassen.
Ich beschreibe die Fahrt nicht, denn es würde die Depressiven, die meinem Ratschlag folgen, um das Urerlebnis ihrer Befreiung vom Leidenbringen. Ein wenig Appetit möchte ich aberwecken und nenne darum eines der Elemente, wie es in seiner Vielgestaltan mir vorüberzog: Zürcher See, Zuger See, Vierwaldstätter See, Comer See, Lago Maggiore, Luganer See. Und ich schreibe nieder, worauf ich mich am Gotthardbesann …
 

Und seid Ihr glücklich durch die Schreckensstraße,

Sendet der Berg nicht seine Windeswehen

Auf Euch herab von dem beeisten Joch,

So kommt Ihr auf die Brücke, welche stäubet.

Wenn sie nicht einbricht unter Eurer Schuld,

Wenn Ihr sie glücklich hinter euch gelassen,

So reißt ein schwarzes Felsentor sich auf –

Kein Tag hat’s noch erhellt – da geht ihr durch,

Es führt Euch in ein heitres Tal der Freude –

Doch schnellen Schritts müsst Ihr vorübereilen,

Ihr dürft nicht weilen, wo die Ruhe wohnt.

 

So immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen

Des Gotthards, wo die ewigen Seen sind,

Die von des Himmels Strömen selbst sich füllen.

Dort nehmt Ihr Abschied von der deutschen Erde,

Und muntern Laufs führt Euch ein anderer Strom

Ins Land Italien hinab, Euch das gelobte –1

 
1 Schiller, Wilhelm Tell, 5. Aufzug, 2.Auftritt: Tell verhilft dem Kaisermörder Johannes Parricida zur Flucht, nachdem er sich von ihm distanziert hat.
 
In Bellinzona, der vorletzten Station in der Schweiz, leerte sich der Zug, als sei es so verabredet gewesen. Da ich nicht wusste, wie es kommen würde, hatte ich mich eine Viertelstunde zu früh zum Speisewagen durchgedrängelt. Platz gab es kaum. Ich setzte mich gleich hinter dem Eingang an einen Tisch, an dem mir gegenüber ein Vater mit zwei kleinen Töchtern saß. Zwischen uns standen drei noch fast volle Cola-Flaschen. Wielange schon? fragte ich mich gleich darauf. Hätte ich mich an meine eigene Tochter und eine Autofahrt über den Julierpass im Engadin, als sie im gleichen Alter war, erinnern sollen? Kaum hatte ich bestellt, musste sich eines der Mädchen übergeben. Offenbar nicht zum ersten Mal, denn der Vater hielt ihr rasch eine Plastiktüte unter, die schon angefüllt war. Die attraktive Kellnerin, die nur italienisch sprach, hatte es vorausgesehen, vielleicht hatte ich ihre Warnung nicht verstanden, jedenfalls packte sie mich am Arm und zog mich quer durch den Wagen bis ans andere Ende, wo noch ein Sitzplatz frei war. Ich magkeine diktatorische Fürsorglichkeit, am wenigsten von Frauen; aber ich verdanke ihr eine der schönsten Stunden meines Lebens. Denn wenige Minuten später waren der Zug leer und mein Blickfeld frei. Ich saß vor einer Spiegelwand und stellte fest, dass außer dem Vater mit seinen zwei Töchtern, die mir nun von weit weg hintenin den Rücken sahen, nur noch ein junges Pärchen an einem Tisch in der Mitte des Wagens saß. Allerdings kam jetzt die Mutter der beiden Kinder und erkundete sich nach dem Befinden des größeren Teils der Familie. Ihr Mann zuckte mit den Schultern. Sie verschwand rasch, wie sie gekommen war. Mir wurde klar: Ihr waren solche Szenen von früheren Reisen wohlvertraut. Sie hatte, damit sie ungestört ihren Apfel essen und das Modejournallesen konnte, den Vater mit den Töchtern vorsorglich aus dem Abteil in den Speisewagenweggeschickt.
Auch ich genoss erneut die Welt. Ich aß meine Penne alla arabbiata, mischte sie in meiner Kehle mit kräftigem Abbruzzenwein. Als ich aufblickte und nur sovor mich hinsah, bemerkte ich, wie das Pärchen mit solcher Inbrunst aneinander sog, dass mein Blick am Spiegel haften blieb. Ich dachte an die Hollywood-Filme aus der Zeit vor der sexuellen Revolution. Als Kinder hatten wir in der Jugendvorstellung ‚Aufhören‘ oder ‚Halbzeit‘ gerufen, wenn die Vereinigung des Helden mit seiner Angebeteten im Kuss kein Ende nehmen wollte. Das alte Hollywood mit allen seinen kussgeschulten Stars war nichts gegen die Orgiesich suchender, saugender Lippen, die sich mir darbot. Die beiden waren nicht schön, aber im schönsten Alter. Sie trugen Brillen, setzten sie nicht ab. Es machte sie erfinderisch, sich ‚dabei‘ nicht ‚daran‘ zu stoßen. Auch sonst berührten sie sich nicht, sondern legten alle Leidenschaft und Hingabe in Münder- und Zungenspiel. Ab und zu glitt ein Kuss aufs Ohr ab. Ein reiner, schöner Menschentraum.Ganz nahe.
Vielleicht wäre mir so viel Liebe, die ich mit keinem zudringlichen Blick störte, denn ich sah ja in die andere Richtung, und die beiden sahen und fühlten nur sich selbst, doch irgendwann zu viel geworden, so sehr ich langein dem Bilde schwelgte. Zwanzig Minuten später war es vorbei. Der junge Mann stieg in Lugano aus. Er riss sich unvermittelt aus dem letzten langen Kuss und winkte beim Hinauseilennach rückwärts - der Zug stand schon eine Weile, niemand stieg mehr aus.Sie trat ans Fenster. Beide winktenheftigund heftiger, bis kein Blick die Trennung mehr überbrückte. Sie setzte sich. Ihre Augen hatten noch den Glanz von eben, wurden sich aberihrer Einsamkeit bewusst. Es klingelte in ihrer Tasche. Sie griff hinein, die Augen strahlten wieder auf. Dann war auch das vorbei. Sie starrte vor sich hin wie ich – und bemerkte plötzlich die unangerührte Schinkenplatte vor sich auf dem Tisch. Ein anderer Appetit kam in ihr auf. Sie schob mit der Gabel, wie geschäftlichschien es mir, Scheibe für Scheibe genüsslich in den Mund. Sie lächelte. Die Platte leerte sich im Nu, so schlang sie den Prosciutto runter; der Glanz in ihren Augen war erloschen. Sie telefonierte dann noch mehrmals, steckte zwischendurch ihren kleinen Dutt zurecht und putzte mit jeweils einem Zeigefingernagel die Fingernägel ihrer anderen Hand.
Als ich in Mailand aus dem Zug stieg, schlug mir schwüle Hitze entgegen, als sei ich in Bangkok gelandet. Fünfundvierzig Minuten Wartezeit im Trubel erwarteten mich. Ich wollte sinnen. Die taube Menge verschluckte mich.

 
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