KONTEXTE:
eine seite umblättern. ein anderes gedicht. das neue gedicht schafft
sich seinen kontext, aus einer adverbialen fügung, aus einer privaten
etymologie, die stark genug ist, einen rahmen zu schaffen. aus dem
plötzlichen aufruf des einzelnen worts und seiner verkettung soll die
antwort auf die frage werden: wo sind wir. obwohl gedichte sprache
nicht vorrangig als medium der informationsübermittlung adressieren,
muss das gedicht informieren, sich seiner form stellen, diese form
präsentieren, sich einen kontext schaffen, vielleicht stärker oder
schneller (the speed of truth) oder pointierter (eine frage der
opulenz) als andere textsorten. der kontext steht immer wieder neu zur
verhandlung: sich stellen. sich vorstellen. framing.
DAS VERTIKALE
WORT: es gibt worte, die dem gedicht unverzichtbarer sind als andere.
das wort, das die schichten aneinanderheftet, oder: das sich durch die
schichten fräst. ein wort, wie ein bizarres objekt, ein beta-element
(bion), das wort, das zirkuliert, obwohl es seinen platz hat, die
tiefe, die höhe. „so heißt das wort nur", formuliert deleuze und öffnet
ein fass ohne boden: den infiniten regress. diese worte lassen sich
ausmachen. sie sind der sitz einer dringlichkeit, über deren warum und
woher sich nichts aussagen lassen können muss.
DER KOFFER, DIE KLEIDER:
die vorteile des gemacht-seins, die vorteile des gewolltseins: präzision.
auf tritt francis ponge:
>>Und
mein Gefühl von Literatur ist oft, wenn ich nach einem Gespräch nach
Hause komme, wo ich den Eindruck hatte, alte Kleider, alte Hemden von
einem Koffer in den andern zu packen, all das auf dem Speicher, wissen
Sie. Ein bißchen verschwitzt und dreckig, unangenehm auf der Haut. Ich
sehe die weiße Seite und sage mir: „Mit ein wenig Aufmerksamkeit kann
ich vielleicht etwas Sauberes, etwas Klares schreiben." Um etwas zu
machen, das gelesen, wieder gelesen werden kann, auch von einem selbst,
und das nicht an diesem Zufall der Worte teilhat. Gegen den Zufall. Die
Zufälle, das sind vielleicht extrem komplizierte Gesetze. Und
vielleicht kann ein guter Text Zufall in diesem Sinne sein. Sehr
mehrdeutig. Ein anderes Gesicht bei jeder Lektüre. Aber eine Sache, die
nicht zerfällt und die gleichzeitig mit dem angenommenen Leser
weiterlebt, wenn es auch nur ich selbst wäre.<<
aus:
Literarische Praxis. Nach der Aufnahme eines Vortrages in der
technischen Hochschule Stuttgart am 12.07.1956 rekonstruierter Text.
dann,
im besten fall kann es zu einer exaktheit kommen, die ihren ort in der
zeit hat und dort auch wieder verliert: und wenn es gut ist, das wort,
der satz, ist es die gelungene balance, die verkörperung. in der
schaumwelt, gegen die schaumwelt, mit der schaumwelt (heinrich).
WIDERSTAND UND EINFACHHEIT
nicht
komplexität absichtlich. nicht verdunkelung, die metaphern werden
festgezurrt und es dringt kein licht mehr ein, nur einer hat die hand
noch am schalter. das nicht. aber: zur entfaltung braucht es die falte.
gute gedichte haben etwas, durch das man vorerst nicht einfach
durchkommt, eine besondere beziehung zur zeit. das kommende verstehen,
ein kontrakt, der mittels vertrauen zustande kommt. gedichte können der
ort sein, wo die geschwindigkeit des verstehens zum gegenstand wird.
etwas, das sie haltbar macht, das späteres wiederlesen belohnt. eine
nachhaltigkeit, wie ein langsamer zaubertrick (clayton), nicht ein
„decking the sense as if it were to sell" (herbert).
andererseits:
die schönheit des einfachen, wie das öffnen einer hand... verse, die
kaum gelesen, sich anschicken einen überall hin zu begleiten, für
lange... ja, auch das...
DAS PELZTIER
einen gedanken in eine
beständige, aber auch bewegliche form bringen, eine form, die auch
seine zum unsagbaren offenen, aus noch stummer erfahrung bereicherten
ränder faßt. dort, wo das erkenntnisinteresse sich mischt mit seinem
schwer fassbaren warum, seinem noch vordiskursiven movens hat das
gedicht dem essay, der analyse etwas voraus, obwohl es von beidem etwas
haben kann. hier kann präzision ebenso am werk sein, wie die
klassischen momente sowohl der traumbildung als auch der poesie:
verschiebung und verdichtung.
ein gedanke, der interessiert: das
tollkühne aufgebot des letzten stolz nach einer überwältigenden
narzißtischen kränkung, kann ein pelztier werden, klein wie ein nager,
das entwischt.
DIFFICULTY
>>Poetry can offer us images
of the activity of making language authentic, whether that involves
rejecting a phrase that „first enhances, then debases," or mining
clichés for the core of vitality that remains in them. But poetry can
also warn us against the temptation to imagine that we have arrived at
an absolute and unassailable lucidity. Poetry, because it has the
potential to be the most difficult kind of writing, can most
effectively pose the demands of experience, as they are sedimented and
embodied in the language we use, against their reduction in the
formulas of skepticism that now come so naturally to our minds and
lips. It has become easy for us to identify the categories and habits
of thought produced by the skeptical intellect with truth, even when we
have dissolved the notion of truth back into a language game or an
effect of power. Poetry, by bringing us to a greater awareness of the
languages by which we understand our experience, should help us resist
the reduction of experience to formulas, whether those are the formulas
of lyricism or of lucidity. But to do so it will have to be
difficult.<<
aus: Vernon Shetley: After the Death of Poetry.
Durham & London: Duke University Press 1993
DIE
TÜR 1000 MAL SCHLIESSEN:
das schließen einer tür kann alles sein. was
es sein kann, geht über die reine prädikation hinaus. doch für welches
schließen kann eine form die einzige sein? hier setzt die arbeit an der
übereinstimmung ein, die übersetzungsleistung von sprachlosigkeit in
sprache. das gedicht weist auf die stelle, auch die stelle in der zeit,
in der das alles, welthabe, weltaspekte, sprache werden will, und
erhält sie, als schwelle.
DAS BESSERE SCHEITERN:
das alles muss
freilich nicht immer gelingen. die forderungen aus den obigen
behauptungen ergeben dann den einen oder anderen hohlen klang, einen
falschen heroismus der eigenen absichten. so tönt das missige
verhältnis zwischen der eigenen produktion der eigens hinzu
produzierten theorie. trotzdem: zum gedicht gehört auch die zeit (die
dauer) des schreibens, des verwerfens, neu beginnens, löschens und
scheiterns, wobei das scheitern dann vielleicht von einer anderen,
besseren art ist, als das scheitern in den seriellen frustrationen des
alltags. |