lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Hanno Raichle
 
 
literaturlabor 14.01.2007
 
diagnostische lücke
 

wenn meine gedanken oder sätze mit tintenkiller geschrieben wären.
ich müsste nur salzsäure-dämpfe darüber leiten und könnte sie wieder sehen.
ich habe ein schlechtes gedächtnis.
ich habe ein schlechtes gewissen.
deswegen.
ich erinnere mich nicht an den namen der frau, mit der ich damals auf korsika geschlafen habe.
nicht, dass es wichtig wäre.
nur, dass an einem berghang gegenüber der wald brannte.
ich weiß nicht mehr, wann irgendwas passiert ist.
es ist gelöscht.
ich weiß nicht mehr, warum überhaupt.
ich weiß nicht, ob ich dafür gesorgt habe.
wenn ich in den spiegel sehe, kann ich nicht sagen, wie ich gestern aussah.
als hätte ich die oberfläche und meine reflektion darin weggewischt.
ob ich mich heute rasiert habe.
ob ich schon etwas gegessen habe.
ob der ausschlag an der wange schon immer da war.
nenn es lücke.

ausfall.
amnesie.
gleichgültigkeit.
was auch immer.

 
 
 
denk drüber nach, ob's das wert ist, sage ich flex.
da gibt's nichts nachzudenken.
flex wirft seine kippe aus dem fenster.
ist nicht dein problem.
in ordnung. ist grün mann, sage ich.
flex legt den gang ein und fährt über die kreuzung.
im rückspiegel verschwindet die stadtkirche, zuerst das kreuz, dann der turm.
die kastration der heiligkeit, sage ich.
was? fragt flex.
nichts. wo hast du meine kippen hin?
flex steckt die finger in die brusttasche, holt meine schachtel raus und wirft sie mir in den schoß.
wohin fahren wir eigentlich?, fragt er dann.
 
 
 
nachdem wir miteinander geschlafen haben, streiche ich marla mit der hand die augen zu.
als wäre sie gestorben und ich ein guter freund.
in meiner handfläche spüre ich, wie sie die augen wieder öffnet.
warum tust du das?, fragt sie.
was denn?
marla schiebt meine hand von ihrem gesicht und legt sie neben ihren kopf auf die matratze.
mit mir, sagt sie.
ich sehe auf ihren mund. an ihrer unterlippe fehlt ein stückchen haut, ein wenig blut liegt in der wunde.
was denn?, sage ich wieder und schaue auf ihren wecker. er zeigt das datum: 14/o2/o4.
marla schüttelt den kopf und dreht sich von mir weg. die haut am rücken sieht weich aus.
ein farbton, den menschen in meinen träumen als kleidung tragen könnten.
aus meiner faust zähle ich die stunden bis zum aufstehen durch.
fünf.
eine handvoll schlaf.
 
 
 
der fleck auf der couch dürfte immer noch da sein. man müsste nur die überdecke wegziehen, schon entdeckt man die kleine insel aus toten spermien. ich weiß nicht, ob die geschichte über hiroshima stimmt. dass sich die schatten der vaporisierten menschen durch den atombombenblitz in die wände gebrannt haben. wenn ich aber an die in asche mumifizierten körper aus pompeji denke, die ich als junge im urlaub gesehen habe, klingt hiroshima auch plausibel.
auf keinem der dauerwerbesender zeigen sie, wie man blut oder sperma aus stoffen am besten entfernt.
als ich flex besuche, setze ich mich genau auf die stelle.
als würde ich mich auf ein grab setzen.
flex stellt sein bier zurück auf den tisch. wir nennen ihn flex, weil er immer etwas länger braucht, um dinge zu begreifen.
re-
flex.
in pornofilmen benutzen sie eine mischung aus eiweiß und milch, um künstliches sperma herzustellen, wenn bei den darstellern nichts mehr kommt.
und was hast du dann gemacht?, fragt flex. er lässt ein nietenhalsband um den zeigefinger kreisen.
nichts.
ich zünde mir eine zigarette mit meinem feuerzeug an. es ist schwarz. sargnagelhammer steht gedruckt auf der seite. ich nehme einen lungenzug und merke, wie meine beine vulkanisieren, während flex mich anstarrt.
---
deine spülung funktioniert nicht, sagt marla, als sie aus dem bad in die küche kommt.
ich weiß, antworte ich. da gibt es einen trick. ich gehe mit der flasche becks an ihr vorbei und schließe die badezimmertür zu. sie hat den toilettendeckel heruntergeklappt. in der schüssel schwimt ihr flacher urinsee. ich öffne den spiegelschrank, hinter dem kondom liegen die teststreifen. ich nehme einen und knie mich vor das klo. ich tunke die reaktionsfläche des schnelltests in den urin. nach ein paar sekunden nehme ich ihn heraus und lege ihn auf den waschbeckenrand. dann öffne ich den spülkasten. die spülung ist ausgehakt. ich hänge den draht wieder ein und schließe den spülkasten.
ich klappe den klodeckel herunter und setze mich hin. die waschmaschine zeigt mir ihren stahltrommelmagen. ich nehme einen schluck bier.
pontius pilatus hätte das grabtuch mit dir waschen sollen, sage ich.
manchmal rede ich mit toten dingen, wenn ich angetrunken bin.
blut und sperma. angstschweiß.
nirgendwo in der bibel steht, wie lange der leidensweg christi gedauert hat.
in stunden oder minuten.
wie lange braucht einer, um deine handgelenke in ein kreuz zu nageln?
ich halte mir meine hand vor augen, fünf finger. fünf minuten warten.
ich hebe den zeigefinger unter meine nase und rieche. ob ihr urin einen geruch hinterlassen hat an meiner haut.
wie lange hat die geburt christi gedauert? war sie schmerzhaft?
sie klopft an die tür. und? klappt's?
ich blicke auf den teststreifen. ein grüner strich drückt sich durch die oberfläche. ich stehe auf, nehme den test und klappe den deckel wieder hoch.
ja, sage ich und werfe den streifen in die toilette.
dann drücke ich die spülung. das papier dreht sich und verschwindet in der kanalisation.
grün.
gelb.
fehlt nur noch rot.
 
 
 
dr. med. helga matuski steht auf dem namensschild an ihrem busen, der wie eine kaum gefüllte wärmflasche aussieht.
so, herr mendel. dann setzen sie sich doch einfach.
sie zeigt auf einen der beiden stühle vor ihrem nierenförmigen arbeitstisch. er ist ordentlich und sauber. links ein flatscreen. rechts broschüren über geschlechtskrankheiten in einem halter aus blauem karton.
dr. matuski bemerkt meinen blick und zieht eines der faltblätter heraus.
das können sie mal mitnehmen und durchlesen. und hintendrauf steht auch meine nummer und die sprechstundenzeiten.
okay. danke, antworte ich und stecke das informationsmaterial ein.
gut. sie räuspert sich. herr mendel. sie wollen ja den test machen.
ja, sage ich. der raum riecht nach lebkuchen.
gut. dann stelle ich ihnen jetzt ein paar fragen.
sie holt einen notizblock aus einer schublade und legt ihn vor sich, schlägt eine neue seite auf und greift an ihre rechte brust.
wo ist denn...wo habe ich bloß meinen kuli?
ich überlege, ob krankenhäuser jetzt ihre desinfektionsmittel mit duftstoffen versetzen.
als marlas hund von einem auto angefahren wurde, fuhr ich sie zum tierarzt. flex war übers wochenende weggefahren. als wir im wartezimmer saßen, fiel mir auf, dass alle tiere ruhig waren. kein bellen. kein maunzen. kein krächzen. kein japsen. kein winseln. nichts. ich denke, sie rochen die angst, die andere tiere vor ihnen im raum gehabt hatten.
eine olfaktorische betäubungsspritze, noch vor der eigentlichen untersuchung.
und um einiges schlimmer.
nehmen sie meinen, sage ich, greife in meine jackentasche und reiche ihr den stift.
dr. med. matuski hört auf zu suchen und lächelt. an ihrem schneidezahn klebt etwas lippenstift.
dankeschön. sie nimmt den silbernen kugelschreiber in die hand. dreht den hinteren teil, vorne schiebt sich die mine aus dem schaft.
der ist aber schwer.
ich nicke.
liegt aber schön in der hand... dann fang ich mal an. herr mendel, hatten sie schon einmal ungeschützten
geschlechtsverkehr?

ich nicke.
und wie oft?
meine rechte hand liegt unterhalb der tischkante zwischen meinen schenkeln. daumen, zeigefinger, mittelfinger, ringfinger, kleiner finger.
fünf mal, zähle ich. bin ich mir da sicher? nein. aber fünf ist eine gute zahl. eine handvoll etwas. fünf geht immer.
hmhm. ihre linke augenbraue hebt sich kurz in die stirn, während sie etwas notiert.
mit wechselnden partnern?
ich nicke.
menschen könnten genauso gut riechen wie hunde, wenn ihre nasen genauso groß wären. wir riechen nur in assoziationen.
weihrauch bedeutet kirche.
lebkuchen weihnachten.
desinfektionsmittel krank.
sie wissen schon, welche risiken damit verbunden sind?, fragt dr. med. matuski, aber eigentlich klingt es wie eine feststellung.
wir müssen ihn einschläfern, frau helster. die inneren organe sind leider so stark verletzt, dass ich nicht mehr operieren kann.
ich nicke.

gonorrhoe, syphilis, hepatitis a, b und c.
candida,- chlamydien,- oder trichomonaden-infektionen.
filzläuse, kondylome, herpes genitalis.
hiv.
lebkuchen als anxiolytikum.
haben sie vielleicht irgendwelche fragen, herr mendel?
ich schüttele den kopf.
die ärztin notiert sich noch etwas und gibt mir dann den kugelschreiber zurück.
dann kommen sie doch bitte hier herüber.
sie erhebt sich aus ihrem schreibtischstuhl und weist auf die tür ins nebenzimmer, die hälfte einer untersuchungsliege ist sichtbar. ich stehe auf und gehe voran. auf einem tisch liegt eine packung einmalhandschuhe "gentle skin". daneben eine eingeschweisste nadel und blutröhrchen. das fenster neben der liege ist aus milchglas. an der raufasertapete hängen zwei bilder. van gogh und miro.
automatisch setze ich mich auf den dicken plastikbezug der liege.
dr. matuski lässt mich den ärmel hochschieben, legt mir den stauschlauch um den oberarm.
dann ballen sie doch bitte jetzt mal die rechte faust.
meine venen treten hervor, hinter dem schlauch pocht das gestaute blut.
dr. matuski geht an ein spülbecken in der ecke und wäscht sich sorgfältig die hände. sie drückt auf den spender auf dessen etikett sterilium steht. spermaartige fäden fließen aus der düse auf ihre handflächen.
der lebkuchengeruch verschwindet.
haben sie eine latexallergie?, fragt dr. matuski über die schulter.
nein. nicht das ich wüsste, sage ich.
dann finden wir das mal raus. sie lächelt und zieht ein paar handschuhe aus dem karton.
wenn das ein porno wäre, würde helga jetzt ein kondom aus ihrem ausschnitt ziehen.
haben sie angst vor spritzen?
wenn das immer noch ein porno wäre, würde helga sagen, sie muss meine spritze sehen.
marla sah weg, als der tierarzt mit daumen und zeigefinger ein stück fell zusammendrückte und die nadel in die hautbeule stach.
ich schüttele den kopf.
sie würden nicht glauben, wie erwachsene männer sich dabei aufführen können, sagt die ärztin und verdreht die augen, als sie meine ellenbeuge desinfiziert. dann reisst sie die sterile hülle der spritze auf. sie schiebt die nadel langsam in eine dicke vene hinein, schraubt das blutröhrchen auf und zieht langsam den stempel zurück. schwarzrotes blut füllt die kammer auf, so dicht, als wäre es nicht flüssig.
wir haben leider nichts anderes, entschuldigte sich der tierarzt und drückte mir eine alte decke in die hand. ich wickelte den dackelkörper hinein, als würde ich ihn mumifizieren wollen. auf dem weg zum auto begann marla zu weinen. ihr schluchzen riss sie in die hocke, während ich mit dem toten hund in beiden händen neben ihr stand. die decke fühlte sich immer schwerer und kälter an.
hilf mir, flüsterte marla. irgendwie. bitte.
so. fertig. herr mendel, ich muss ihnen ein kompliment machen, sagt dr. matuski und zieht die handschuhe aus.
wenn das ein porno wäre, würde helga sagen, dass kein anderer sie jemals so durchgefickt hat wie ich.
so ruhig habe ich noch keinen meiner patienten gesehen.
ich ziehe meinen ärmel über das pflaster und stehe auf.
steh auf, marla. komm schon. du musst aufstehen.
dr. matuski reicht mir die hand. meine handflächen sind feucht, als hätte ich einen nassen schwamm angefasst.
das ergebnis müsste in einer woche da sein. wenn sie dann vorbeikommen.
ich nicke. auf wiedersehen.
dr. matuski lächelt ein letztes mal und schließt die tür.
 
 
 
warum?, fragt marla und ich sage: ich weiß es nicht. marla schüttelt den kopf. die wimperntusche hat ihre tränen, die links und rechts bis zum kinn gehen, schwarz gefärbt. ihr oberkörper zittert, als würden elektrische ströme durch ihren körper gejagt. ich habe keine ahnung, wie ich an meine autoschlüssel kommen soll.
wohin soll ich fahren?, frage ich marla, die ihre stirn an die fensterscheibe drückt. ihr kopf pendelt ständig hin und her, als wäre die stelle, an denen buddhisten das dritte auge vermuten, bei ihr ins glas genagelt. simp liegt eingewickelt auf dem rücksitz hinter mir. jeder, der jetzt in den geparkten wagen schauen würde, würde denken, ich fahre mit meiner freundin und picknickdecke ins grüne.
zu euch?, frage ich, obwohl flex nicht da ist.
ein renault espace parkt gegenüber ein. mann und frau steigen vorne aus, hinten zwei kinder, junge und mädchen. die frau nimmt die beiden sofort an ihre hand. zu dritt gehen sie in richtung praxistür. der mann wartet, bis sie im haus verschwunden sind und öffnet dann die hintertür. er beugt sich hinein und holt einen großen käfig mit zwei kaninchen heraus.
wenn kaninchen fluchttiere sind, was sind dann menschen?, denke ich und ziehe eine zigarette aus der hochgeklappten sonnenblende.
der mann hat meine bewegung registriert, hält kurz inne und sieht mich an.
ich zeichne ein kreuz in die luft, mit mittel- und zeigefinger, dazwischen die kippe.
ego te absolvo, sagen meine lippen. irritiert grüßt der mann mit der freien linken hand zurück, schließt dann die kofferraumtür zu und dreht sich weg.
tierfriedhöfe kenne ich nur aus dem fernsehen.
hinter dem grab meiner urgroßeltern, hinter der hecke, auf der anderen seite, erklärte mir meine mutter, ist der kinderfriedhof.
ich stellte mir kleine kreuze und noch kleinere gräber vor.
wie für tiere.
katzen.
kaninchen.
simp.
wenn das eine morbide komödie wäre, müssten wir simp innerhalb von 24 stunden marlas halblinder und reichen tante zeigen. natürlich lebend, damit marla ihr testament bekommt.
kurz vor ihrem haus müsste ich an einer ampel abrupt bremsen. der hund würde nach vorne geschleudert und bräche sich das genick.
wo ist sein halsband?
marla hat sich aufgerichtet und sieht mich an. an der scheibe klebt ein halbmond aus hautfett.
das hat er noch an. glaube ich, antworte ich.
nimm's ihm ab. bitte, nimm's ihm ab. ich will nicht, dass es ihn...
marla nimmt mir die zigarette aus den fingern und zündet sie nervös an.
...ihn fesselt, sagt sie dann, nachdem sie einen zug genommen hat.
ich nicke.
jetzt gleich?, frage ich, den zündschlüssel in meiner hand.
ich weiß nicht. ich weiß es einfach nicht, verstehst du?
ich nicke. eigentlich sollte ich den kopf schütteln.
dann drehe ich mich um, knie mich auf den fahrersitz und greife nach der decke.
ich will simp nicht auswickeln, also taste ich mit der hand in das offene ende der rolle. seine schnauze ist trocken und warm. meine finger wandern die lefzen entlang bis zu den ohren, dort etwas tiefer, bis ich den verschluss des nietenhalsbandes berühre. es braucht eine weile, bis ich ihn geöffnet kriege.
dann setze ich mich wieder hin und gebe marla das halsband.
danke, sagt sie und umklammert es mit ihren händen. sie beginnt wieder zu weinen, lautlos. sie zieht sich das leder über die handgelenke.
wenn ich ein bondage-fetischist wäre, würde mich der anblick erregen.
fahr los, sagt marla. fahr zu uns.
aber flex ist doch nicht da, antworte ich.
simp ist auch nicht mehr da, sagt marla

wir halten an einer tankstelle. während marla in den shop geht, rufe ich flex an.
radmacher?, meldet er sich nach dem fünften klingeln. seine stimme klingt wie in watte gepresst.
flex?
ja..
ich bin's.
schon klar. was ist?
stör ich gerade?
ziemlich,
antwortet flex.
ich wollte nur sagen, dass der hund tot ist.
unwillkürlich werfe ich einen blick nach hinten, als wäre ich mir nicht sicher.
flex?
erzähl's marla. es ist ihr hund.
sie weiß es schon.
okay. und was soll ich jetzt tun?,
fragt flex, als hätte ich ihn um eine gehaltserhöhung gebeten.
ich zucke mit den achseln. durch die fensterscheibe beobachte ich marla. sie steht mit drei flaschen rotwein an der kasse.
sie heult die ganze zeit, sage ich. flex?
was?
ich merke, dass er durch irgendwas abgelenkt wird und nicht zuhört.
und dass ich nicht weiß, was ich ihm sagen sollte.
nichts.
ihr kriegt das schon hin.
ich weiß nicht. flex, wär besser, wenn du hier wärst. glaube ich.

flex hat wohl seine hand auf den telefonhörer gelegt, es knistert, während er mit jemandem redet. marla klopft an die scheibe und bedeutet mir, ihr von innen die tür aufzumachen. ich schalte mein handy aus und stecke es weg, während sie die flaschen auf die fußmatte legt.
wer war dran?, sagt sie und zeigt auf meine ausgebeulte jackentasche.
kennst du nicht, antworte ich.
eine frau?
ja, sage ich und muss mich räuspern.
und, liebst du sie?
was?
marla blickt mich scharf an. ihre iris und die pupille schmelzen zu einer großen dunklen fläche zusammen. für einen augenblick kann ich sehen, was sie gerade sieht.
einen lügner.
dann schließt sie die augen. fahr los.
was hast du damit vor?, frage ich und deute auf die weinflaschen.
die trinken wir jetzt. auf simp. hast du dein taschenmesser da?
ich nicke und gebe es ihr, den korkenzieher aufgeklappt. dann starte ich den motor und biege aus der tankstelle. wir fahren eine weile.
und, liebst du sie?
ich zünde mir kopfschüttelnd eine zigarette an, um den satz aus meinen ohren zu kriegen. an einem zebrastreifen halte ich. eine junge frau überquert ihn langsam, mit der einen hand schiebt sie einen kinderwagen vor sich her. mit der anderen reibt sie einen apfel an ihrem pullover sauber. in der straßenmitte bleibt sie stehen, sieht mich an und beißt in den apfel.
schlampe, flüstert marla, führt die flasche zum mund und trinkt.
 
 
 
ich denke zuerst, dass katzen vor dem fenster schreien. als ich den kopf nach links drehe, sehe ich, dass marla nicht mehr neben mir liegt. die bettdecke sieht aus, als hätte jemand versucht, einen großen papierflieger aus stoff zu falten, und dann aufgegeben: die rechte seite liegt dreieckig aufgeschlagen auf der linken.
wieder schreit etwas, und ich merke, dass das geräusch nicht von draußen durch das gekippte fenster kommt, sondern aus dem inneren der wohnung. ich steige aus dem stoffflieger aus und öffne die zimmertür. der gang ist dunkel, weiter vorne liegt ein schmaler balken licht auf dem boden vor der wand.
das badezimmer.
wenn das ein horrorfilm wäre, würde ich die tür öffnen und in die hölle gezogen werden.
wenn das kein horrorfilm ist, was macht dann das blut auf den kacheln?
Marla hockt wimmernd in der ecke neben der toilette, nackt, die knie aufgestellt, beide füße weit nach links und rechts abgewinkelt. aus umgekippten flaschen fließt rotwein. der ganze boden schwimmt.
marla? alles klar?, frage ich. nein: hier ist rein gar nichts klar, denke ich.
sie zuckt zusammen als sie meine stimme hört und hält sich schützend die arme vors gesicht.
marla, ich bin's. okay? ich bin's.
ihre hände sind weinverschmiert, sie hat die finger zu fäusten geballt.
marla schüttelt den kopf. lass mich.
marla, du bist betrunken. du musst aufstehen.
verpiss dich!, stößt sie zischend hervor. ihr gesicht ist genauso blass wie das emaille der kloschüssel. oder ich stech dich ab.
sie fuchtelt mit der rechten faust durch die luft. etwas metallisches glitzert darin. spitz. dünn. lang. ich mache einen schnellen schritt auf sie zu und packe marlas handgelenk. drehe es um, so dass sie die finger aufmachen muss.
eine stricknadel fällt auf den boden zwischen ihre schenkel. sie sieht aus, als hätte jemand einen fransigen roten bindfaden darum gewickelt.
ihre schenkel.
scheiße.
zwischen ihren schenkeln fließt blut heraus.
kein wein.
um künstliches blut herzustellen benutzt man die beiden lebensmittelfarbstoffe cochenillerot und patentblau v, zuckerrüben-sirup und wasser.
um echtes blut herzustellen benutzt man eine stricknadel, die man in den körper einführt.
ich bin ein düsenjet.
einer, der angst davor hat anzuhalten, weil die druckwellen des schalles ihn sonst einholen.
in der plötzlichen stille merke ich, wie alles um mich herum immer langsamer wird.
marla sieht ausdruckslos an mir vorbei, den dunklen gang hinaus.
ich habe angst, mich umzudrehen, weil ich spüre, wie sich etwas nähert.
schneller und schneller wird.
in dem moment, als die schallmauer über mich hineinbricht, verliert marla das bewusstsein, ihr kopf prallt hart auf den toilettenrand, die schläfe platzt auf.
etwas, das aussieht wie simp, schießt laut bellend durch die badezimmertür, seine krallen kratzen über den boden, als er vor marla zu stehen kommt und das blut aufleckt.
ich drücke mit daumen und zeigefinger an die nasenwurzel, und suche nach dem resetschalter meiner black box.
 
 
 
der audi vor uns bremst plötzlich, flüchtig sehe ich, wie ein körper knallend von der motorhaube nach oben geschleudert wird. flex' fuss zuckt nach unten, quietschend kommt der passat zum stehen.
scheiße!, flucht flex. was bremst der wixer so?
aus dem wagen ist ein mann im nadelstreifenanzug ausgestiegen und gestikuliert, während er zur vorderseite seines autos geht.
der hat jemanden angefahren, sage ich. hast du's nicht gesehen?
flex schüttelt den kopf.
ich glaub, das war ne frau. hab's auch nicht richtig gesehen.
auf dem bürgersteig vor der stadtkirche gegenüber bleiben menschen stehen und schauen in unsere richtung.
als hätte man ihnen den stecker gezogen.
im gehirn gelöscht, was sie eigentlich tun wollten.
weitergehen. zum friseur. nach hause. einkaufen. spazieren. den hund ausführen. oder den fernseher anschalten, im gehirn löschen, was sie heute gesehen haben.
die hundescheiße im park. den behinderten im bus. den kontoauszug. spuckende grundschüler. schreiende babys.
ich kenne das.
die scheint's aber dann richtig erwischt zu haben, sagt flex und kurbelt das fenster runter, steckt seinen kopf nach draußen, um irgendwas zu sehen.
welchen monat haben wir nochmal?, frage ich, mai?
eine ansteckung mit dem hi-virus lässt sich bei den meisten menschen nach drei bis vier monaten sicher nachweisen. ein zu kurzer abstand nach einer möglichen infektion kann zu einem falsch negativen ergebnis führen, weil noch nicht genügend nachweisbare antikörper gebildet worden sind. den abstand zwischen dem eventuellen infektionsrisiko und dem hiv-test nennt man diagnostische lücke.
ja. mai. wieso?
egal.

hinter uns hat sich bereits eine schlange gebildet. irgendjemand hupt. umdrehen ist nicht möglich.
kannst du erste hilfe?, fragt flex.
ich kann kein blut sehen.
echt, sagt flex und schüttelt enttäuscht den kopf. da vorne kann ich auch keins sehen. ich glaub, ich schau mir das mal an, sagt flex und öffnet den sicherheitsgurt.
kannst du denn erste hilfe?
nee. warum?

die zuschauer werden immer zahlreicher. diejenigen, die alles gesehen haben, stellen den nachkömmlingen den unfall mit ihren händen nach. die rechte audifaust rast auf das fußgängermännchen aus zeige- und mittelfingerbeinen zu, trifft es mit dem eingeklappten daumen am wadenbein unterhalb des ersten gelenkes. dann oberschenkel, der körper neigt sich 45°, bis er auf die knöchel stößt, von ihnen durch die luft geschleudert wird und schließlich liegen bleibt.
genauso war's.
veteranen, die rookies den krieg erklären.
wie es läuft. an wen du dich zu halten hast, als wärst du ein azubi in der systemgastronomie.
mcdonalds. burger king. pizza hut. subway. kfc.
egal wo.
in jeder frühschicht sagen dir zwei 4o jährige frauen, wo du die brötchenpalette hinzupacken hast.
die vollkorn nach unten. seelen nach oben.
der erste sex am abend davor und darum lächelst du dabei.
das periodenblut auf deinem penis.
flex. bist du schonmal fremdgegangen?, frage ich.
flex antwortet nicht, sondern starrt nach vorne. gehört hat er mich aber. ich zünde mir eine zigarette an und warte. die kirchturmglocken fangen das schlagen an.
und wenn?, fragt flex dann plötzlich.
keine ahnung, sage ich. nichts. nur so.
hat marla dir was gesagt?
nein. wieso marla?
weißt du, was ich glaube?
, sagt flex und sieht mich jetzt an, als wolle er mir etwas beibringen.
ich glaube, wir ficken nur kopien, weil wir die originale nicht kriegen. ja, sagt flex. das ist einfach so. die frauen machen es mit uns doch genauso.
wir sollten die bullen anrufen. oder den notarzt, sage ich. hat wahrscheinlich keiner gemacht bis jetzt.
 
 
 
dr. matuski lächelt hiv-negativ, als sie mir das ergebnis mitteilt.
ich überlege mir, wie es sein muss, drei verschiedene gesichter zu haben.
eines für davor:
neutral.
zwei für danach:
positiv.
negativ.
zum abschied gibt sie mir noch ein kondom.
danke, sage ich und stecke es in meine brusttasche.
ich würde ja auf wiedersehen sagen, aber das klingt dann so, als würden sie wieder den gleichen fehler machen, antwortet dr. matuski.
verstehe. dann...
machen sie's gut, herr mendel, sagt dr. matuski und schüttelt meine hand.
sie auch.
es sind vier gesichter.
das letzte ist erleichterung.
auf dem weg nach hause gehe ich bei einer apotheke vorbei. ich kaufe pregnatest, weil mir der markenname gefällt. ich wette, da hat jemand aus der werbebranche mal ziemlich viel geld für bekommen.
 
 
 
ich brauche irgendwas, an das ich mich erinnern kann.
mein film besteht nur aus rissen. in den momenten, an die ich mich nicht erinnern kann, hätte ich genauso gut bei einem pornofilm mitmachen können, ohne es zu merken.
ich starre löcher in die luft, bis ich das gefühl habe, sie sind so groß, dass ich hindurchpasse. ich vergesse, warum ich immer wieder da bin, wo ich hingehe.
so stelle ich mir permanenten jetlag vor.
im krankenhaus erzählt mir eine schwester am kaffeeautomaten, dass die meisten männer mit schnittverletzungen angst haben. nicht vor dem nähen.
sondern vor den narben, die bleiben.
 
 
 
marla liegt im bett und schläft. ich weiß nicht, ob sie immer so klein war, oder das bett zu groß ist. ich setze mich auf einen stuhl und warte darauf, dass sie aufwacht. ihre hände verkrampfen immer wieder, als würde sie im traum etwas festhalten wollen, das sich dagegen wehrt. um ihre handgelenke sind riemen gebunden, die sie am gestell fixieren sollen.
wir haben ihr beruhigungsmittel gespritzt, um sie zu stabilisieren, erzählt mir ein arzt.
er sagt nicht: haldol. 1o mg. intramuskulär.
er sagt: sind sie der freund?
er sagt nicht: ich weiß ja nicht, was sie mit ihr gemacht haben, aber das kind ist futsch.
in der medizinischen klassifikation icd-1o ist marla eine kombination aus zahlen und buchstaben.
Z73.9: problem mit bezug auf die lebensbewältigung, nicht näher bezeichnet.
Z72.1: alkoholkonsum.
X78: vorsätzliche selbstbeschädigung durch scharfen gegenstand.
P00.5: schädigung des feten und neugeborenen durch verletzung der mutter.

man kann dein ganzes leben damit erzählen.
nein. ich bin ein freund. nicht der freund, sage ich.
der arzt nickt. frau helster wird schlafen. aber sie können gerne reingehen.
ich stehe vom stuhl auf und trete ans bett.
warum tust du das, frage ich sie und lege meine hand in ihre.
marlas finger krallen sich in meine haut, so fest, dass die haut aufgeritzt wird und ein sichelförmiger blutmond entsteht. das könnte eine narbe werden.
dann lächelt sie im schlaf.
sie sieht glücklich aus.
ich glaube, sie sollte besser nicht mehr aufwachen.
nicht, wenn sie wieder verlieren will, was sie gerade festhält.