lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2014
 
Ralf Portello
 
 
Wenn Stadtbahnhöfe träumen
   
WEBERWIESE:
Webschiffchenleicht über Grund schwebende Schweberwiese. °
TURMSTRASSE:
Platzregen-, donner- und blitzgebietende Sturmstraße.
ROHRDAMM:
Von Gott und der Welt abgeschnittener Ohrdamm.°° 
PANKSTRASSE:
In feudalen Gebrechen schwelgende Krankstraße.
MOHRENSTRASSE:
Moos-, pilz- und farnüberwucherte Sporenstraße.
KARLSHORST:
Liebt Peters Hagen. Aus Eifersucht tötet Karl Hagen und Horst.
LEINESTRASSE:
Mit Onkeln gesegnete niedliche Kleinestraße.
BIESDORF:
Katzen lebendig röstendes Fiesdorf.
NORDBAHNHOF:
Ist Mord-, Mord-, Mordbahnhof.°°°
WESTHAFEN:
In perennierender Quarantäne liegender Pesthafen.
TEGEL:
Geistiger Kaliban und zweiter preußischer Staatsphilosoph Hegel.
HEERSTRASSE:
Albert Speer-, Leer-, Despair-…Meerstraße?°°°°
 
°      Schweberwiese, ma chère touriste,/ une gare de métro in Berlin-Stieglitzhain ist
°°     Wo mit Vincents Schnürpaket/ Rachel auf dem Bahnsteig steht.
°°°   Parricide./ Matricide./ Sororicide./ Infanticide./ Suicide./ German Gründlichkeit.
°°°°  William and Ingeborg/ fürder sei es eure Sorg:/Es liegt Berlin am Meer./ Wißt, Heldt fiel’s         einst nicht schwer.

 
 
Wir fallen
 
Fall ist, was der Fall ist.
Von Fall zu Fall, Fallsgraf.
Wir fallen.
Fallsüchtig, Fallsgräfin,
gegebenenfalls das ganze
fallsgräfliche Geschlecht.
Ach, der Kuchen, der schöne Kuchen ist falliert.
Bummsfalldera, bummsfalldera.
Sie sind mir ein rechter Fallot.
Kommt Kinder, raus aus der Falle,
wir fahren in die Falls.
______________________________

Im Falle eines Falles klebt
Unsere Herrliche Unfallchirurgie
wirklich alles.

 
 
So lebst du. Das tust du
 

So lebst du anfangs.
Blöcken wie diesen dienst du als Armierung.
Die Arbeit ist zu schwer für dich.
Später verdingst du dich mit deinen Knochen
als Deckenträger in einem Skelettbau der Peripherie.
Du verdienst nicht mehr als den Hungerlohn.
Aus diesem Kellerfenster tastet sich dein Höhlenblick.
Du phantasierst eine Jagdmeute.
Bestürzt ziehst du dich in deine Kaverne zurück.
Als im Jahr der Maueröffnung Maurer die Häuser verputzen,
hast du frischen Speis von den Wänden gebissen.
Putzverbiß in einigen Höfen zeugt bis heute davon.
Reifer geworden verbarrikadierst du dich in einem Lichtschacht
und baust dir aus Müll eine Schmerzhafte Kapelle neueren Stils.
Als du fertig bist, findest du nicht mehr raus aus deinem Heiligen Loch.
Am Todestag von Silvia Plath schälst du dir die Haut vom Leib
und verstopfst mit den Fetzen Türen und Fenster.
Dann drehst du den Gashahn auf.
Im Krähenjahr lebst du in einem der Zwerchhäuser.
Du überläßt dein Gesicht einem wunderlichen Tier als Nest.
In einem Kellerverschlag hockst du lichtscheu wie eine Assel.
Im Herbst gibst du mit klarer Stimme den Kohlenträgern
die Weisung, dich unter dem Brikettbruch zu verschütten.
Im Hungerwinter durchwühlst du Müllschlucker nach Eßbarem.
Du findest nur schreckliche Wunder.
In meinem Schlüsselloch wohnt ein neugieriges Auge.
Du hast es hineingesteckt.
Unter dem Linoleum meiner Schlafkammer lebst du
mit Käfern gekerbt in einer Kleinwelt.
Von dort klopfst du dich nachts in meine Träume.

Morgen kaufe ich ein Teppichmesser und schneide dich frei.

 
Für Mika
 
 
Neologism babes
 
PERLEN (1)- (17)
 

Birgt Waisengrind(1) das Kind in seinem Daumenspind(2).
Perlt grau Schläfenschaum(3) im Waschraum unter Mädchensaum(4).
Findet im Flusenbild(5) Sunhild ihr Blut-(6) und Nervenschild(7).
Braust ein Selbsthaßgut(8), dein Konvolut und Einlaufsud(9).
Schwebst in der Röntgenzone(10) als Drohne mit Versbohne(11).
Leckt der Textkojote(12) die Schote in der Tricksterpfote(13).
Fehlt euch Gräsleinzeit(14) für Vergangenheit im Honigkleid(15)
Dreht die Schwesternwabe(16) der Knabe mit Walkfilznabe(17).

                               O                                                             O
                                                                      (etc. perle perle)
 
Proteus
 
Mit prophetischer Gabe und enormer Wandlungsfähigkeit begabter Sohn des Okeanos und der Tethys. Bittet ein Sterblicher um Auskunft über sein Geschick, versucht er durch stetige Verwandlung sich der Aufgabe zu entziehen. Nur dem prophezeit er, der es vermag, seinen Verwandlungsgenerator abzustellen.

Als ich Proteus erblicke
und ihm meine Frage stelle,
verwandeln sich die Fenster des Kaufhauses,
vor dem er sich an jenem Morgen postiert hat,
sukzessive in:

  HERZEN (Schlag regelmäßig und hart),
  CUMULUSWOLKEN (trunkene Schwäne),
  ITALIENISCHE PAPPELN (Fackeln in langen Reihen),
  HANDTELLER (deren Lebenslinien wie Taue in die Straße hängen),
  BUCHSTABEN (ich entziffere die Worte Freud, Kleid bzw. Leid),
  VULVEN (behaart, unbehaart, lachend, singend),
  BLISTER (Valium®, Ritalin®, Valoron®, Thomapyrin® usf.),
  AUFPLATZENDE, BLÜHENDE UND WELKENDE STERNDOLDEN   (Zeitraffer),
  KALENDERBLÄTTER(auf einem die Eintragung B. Todestag),
  BACkSTEINMAUERN (gemauert, eingerissen, neu gemauert usf.),
  DELPHINE (lachend),
  OHRMUSCHEL (rauschend),
  GRASHALME (zitternd),
  TRÄUMER (murmelnd),
  HAINE (klagend)
  GELDBÜNDEL (gewaltige Summen),
  TÜCHER (mir zuwinkend).

Proteus scheint das Haus auf seinem Dreizack durch die Welt zu tragen.
Und dann?
Stoppt der O-Bus.
Ist der Wandelbare mit meiner Frage verschwunden.
 
 
Rezidiv
 
Da ist ein Schnitt in Ihrer Hand.
Schlüpfen Sie hindurch, Gerhard-Sohn.
Lassen Sie die Klingen,
Ihr Läppchen, Ihre Kränklichkeit.
Sie passen durch den Spalt.
Erst leben Sie in einem Nichts.
Nichts wird Ihre Wabe, wird eine ganze Welt.
Sie nehmen einen Namen, Arbeit, Sie verlieben sich.
Dann finden Sie Ihr Läppchen.
Oh, Gerhard-Sohn, das sollte nicht passieren,
gut möglich, daß jetzt alles neu beginnt –,
doch sagen wir es Ihnen besser nicht.
Wir sagen: Spucken Sie hinein, Gerhard-Sohn.
Pff! Pff! Spucken Sie hinein!
 
 
Drift
 
Auf dem Wasser treibt eine Hand,
streicht in Intervallen über den Spiegel,
ein tausendrissiges Gesicht, reinstes Krakelee,
uralte Augen, welke Lippen, Altersflecken,
eine Bohle mit Kaffeegedeck als Beiboot,
eine gelbe Schale mit rosa Tabletten,
Teil einer ganzen Treibgutarmada,
der Kopf eines Hasen, Tüten, Blumen, Kleider,
sie genießt das wie selten etwas zuvor,
ihre Hand streicht über die Dinge,
die Löffel des Hasen,
die dampfende Kruppe eines vorbeitreibenden Pferdes,
sie taxiert das Treibgut, greift sich eine papierdünne Tasse,
wirft für die Tasse ihren alten Becher über Bord,
sie begegnet anderen Treibenden, ruft ihnen zu:
was für ein prächtiger Tag, seit sieben Uhr treibe ich, und es ist das
                                                                                                          Paradies,
o ja, sie genießt das in vollen Zügen,
sie lockert ihren Fellkragen,
sie benetzt die Lippen mit etwas Kaffee aus der papierdünnen Tasse,
und sie schluckt die Tabletten,
und ihre Pupillen treiben,
und sie vergißt ihr Alter – bin ich Kind, bin ich Greisin? –,
und es ist das …
 
 
Obligo
 
Ich habe immer ein fantastisches Gedicht für Sie.
Ein Milchzahn, der in Ihrem Riesling schwimmt.
Weil alles gut geht und weil alles stimmt,
wächst in meinem Zwerchfell ein Klümpchen für Sie.
Fürs Bäckchen bestimmt, gewinnt es mit der Zeit.
Die Hand steht zum Ziehen der Worte bereit.
 
 
Kampfpause
 
O. K. Das Rauschen der Parkbäume gibt es noch.
Ein kleiner Fuß, der in Pappelschnee taucht.
Im Zwielicht des Ladens schaukelt ein Streifen Stanniol.
Fliegen steigen auf – ein Gekritzel aus Schwärze.
Abgehäutet, mit dem Rücken zur Wand, stehe ich am Tresor
und lausche und setze unseren nächtlichen Kampf fort.
Aus einem Leuchtkasten rieselt ein kupferner Pfeifton.
Kann sein, in den Adern der Elektrik brütest Du.
 
 
Jahresurlaub am Schreibtisch
 

Hinterm Vorhang seit Tagen
dieselbe unfertige Erscheinung:
Schnürmieder, Ballettschuhe,
Geweihröschen an der Stirn.
Rezitiert sich und der Wand
Verse fremder und eigener Hand.
Und balanciert vier fixe Ideen:
NIE MEHR ZURÜCK AN DEN ANDEREN SCHREIBTISCH.
SCHAUFELN ANSETZEN IM REVIER DER KAMMER.
ZWEI ODER DREI PERLEN; DIE ALLES AUFWIEGEN.
PIROUETTE BEIM FANGSCHUSS.

 
 
Fait accompli. Cachette…
 
Trotzig, seinethalben kindisch (jedenfalls verspielt),
gegen die Gesetze des Betriebs (auch der Logik), Herr Vorsteher,
besteht dieses kluge Wesen auf einem asozialen Spielfeld,
einer Kammer mit legislativer Kompetenz (seinethalben Kämmerchen),
irgendwo in unserem sinnigen, gut beleuchteten Tatsachenhaus
(seinethalben siffig, dunkel, zersägt, obszön, vermanscht, haarig,
statisch unzuverlässig und nicht zu lokalisieren –
Eigenschaften bloß der Kammer nicht des Hauses, Herr Vorsteher).
Zugang kaschiert.
(Etwa durch eine verschwiegene Tapetentür, eine Klappe,
einen präparierten Kanaldeckel, einen Feigenbaum.)
Warum? Darum –
und weil laut Fibel dieses klugen Wesens, Herr Vorsteher,
Tatsachen dem Ermüdungsprinzip folgen, eo ipso armselig sind,
allein in Verstecken Ausdrücke glückliche Verbindungen eingehen,
en passant Mischwesen entstehen, crazy Kammerstücke.
Testis?
Fait accompli. Cachette…
Fait accompli. Cachette…
Fait accompli. Cachette…
Fait accompli. Cachette…
Fait accompli. Tourette.
 
 
Psalm
 
Wir machen Licht an.
Mundhöhle hält dagegen.
Wieder nur GRAUMANNSWEG.
Wieder nur FLIEGEN-DINGE.
Oder unser neunhundert Meter kluges Hochamt,
einhergehend mit priesterlicher Synopsis.
Zwischendurch eine Suppe.
Zwischendurch gemeines Pulsader- und Stricktheater.
Gelegentlich Glissando –, doch immer wieder:
AKTENTASCHE – SCHNÜRSENKEL – SCHRUMPFTUNNEL.
Immer wieder kleine Schnitte.
Immer wieder lose Knoten.
Ab und zu Kammertöne.
Ab und zu eine Tür.
Doch hinter der Tür ist vor der Tür.
Und immer wieder Totmannschaltung.
Und immer wieder Mundschwärze.
Immer das Grau lügnerischen Grüns.
Jedesmal drücken wir TAG EIN
und erhalten – TAG AUS.
HErr, warum können wir Deinen Tagen und Türen nicht trauen?
HErr, warum hast Du Schwärze in unsere Münder gelegt?
HErr, warum ist Dein Grün so grau?
AKTENTASCHE – SCHNÜRSENKEL – SCHRUMPFTUNNEL.
Wir machen Licht an.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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