lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Ralph Moenius
 
 
literaturlabor 2018
 
IM BUS
Eine Grimmatorium-Kurzgeschichte
 
Jacob und Wilhelm Grimm sitzen im Bus zur Universität. Wilhelm hört seinem Bruder nicht zu, der sich über die letzte Deutschklausur von Hänsel und Gretel echauffiert. Bis Jacob plötzlich sagt:
"Oh, sie mal da. Ein Terrorist."
Wilhelms Kopf fährt herum.
"Was?", fragt er erstaunt.
Doch tatsächlich ist da soeben ein junger Mann zugestiegen, der wie aus einem schlechten Hollywoodfilm scheint. Er trägt einen für die hochsommerlichen Temperaturen viel zu dicken, ausgebeulten Mantel, der Schweiß steht ihm auf der Stirn und seine Augen blicken sich ständig nervös um. Seine dunkle Hautfarbe und das nahöstliche Gesicht runden die Erscheinung ab. Alle Augen im Bus sind auf den Mann gerichtet.
"Na Bruder, was willst du nun tun?", fragt Jacob, "Als Bürgermeister?"
"Bürgermeisterkandidat", versucht Wilhelm auszuweichen. "Ich habe mich gerade erst zur Wahl gestellt..."
Da wendet sich eine alte Frau an ihn: "Sie sind Bürgermeisterkandidat? Können Sie dann was gegen den Terroristen machen?"
"Äh...", Wilhelm muss sich kurz sammeln, als sich die Aufmerksamkeit der meisten Insassen des Busses nun auf ihn richtet. "Sind wir denn sicher, dass er ein Terrorist ist?"
"Wieso sonst sollte er bei diesem Wetter einen so dicken Mantel anhaben?", fragt Jacob.
"Vielleicht hat er die Grippe", antwortet Wilhelm.
"Möglich", Jacob nickt. "Sollen wir ihn fragen?"
"Wir können ihn doch nicht einfach fragen!", zischt Wilhelm. "Wie sieht das denn aus? Sind wir Rassisten, die jeden nahöstlich aussehenden Menschen unter Generalverdacht stellen?"
"Ach, jetzt seien Sie mal nicht so empfindlich!", krächzt die alte Frau wieder.
"Ich bin nicht empfindlich!", verteidigt sich Wilhelm. "Bedenken Sie, trotz seines Aussehens ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei ihm um einen Terroristen handelt viel geringer, als dass der Bus einen Unfall hat und wir dadurch ums Leben kommen."
"Sie verstehen es ja so richtig einen zu beruhigen, was?", die alte Frau schüttelt den Kopf.
"Dann soll der Busfahrer ihn fragen", erklärt Jacob. "Dessen Aufgabe ist es, für die Sicherheit seiner Fahrgäste zu sorgen, also hat er die Autorität, verdächtige Personen unabhängig von ihrer Herkunft zu befragen."
"Nur dass es in diesem Fall eben ein nahöstlicher junger Mann ist", seufzt Wilhelm.
"So ist es nun einmal", nickt Jacob. "Aber Regeln sind Regeln und wollen befolgt werden. Entschuldigen Sie bitte."
Den letzten Satz sagt er zu einem Mann, der neben seinem Sitzplatz steht. Jacob erhebt sich und bahnt sich seinen Weg nach vorne, wobei er auch an dem verdächtig aussehenden Mann vorbei kommt. Diesen bittet er wie alle anderen höflich, ihn doch vorbei zu lassen. Schließlich hat Jacob es bis nach vorne zum Busfahrer geschafft.
"Entschuldigen Sie bitte, es gibt da ein Problem mit einem Passagier", spricht Jacob den Fahrer an. "Könnten Sie freundlicherweise kurz herausfinden, ob es sich bei ihm um einen Terroristen handelt und dann entsprechende Schritte unternehmen?"
Der Busfahrer sagt nichts und deutet nur auf das Schild mit dem Satz: "Bitte während der Fahrt nicht mit dem Busfahrer sprechen." Jacob nickt und bahnt sich seinen Weg zurück zu seinem Platz.
"Nichts zu machen", sagt er zu Wilhelm.
"Und jetzt?", schaltet sich die alte Frau wieder ein.
"Vielleicht sollten wir den Dialog mit ihm suchen", schlägt Wilhelm vor. "Über normale Dinge mit ihm reden."
"Zum Beispiel?", fragt die alte Frau.
"Das Wetter."
"Sie treffen einen Terroristen und wollen mit ihm über das Wetter reden?", schaltet sich nun ein junger Mann ein, der direkt neben der alten Frau steht.
"Über das Wetter kann man wirklich mit jedem reden", meint Wilhelm und deutet aus dem Fenster. "Es ist gleich da."
"Ich sag, wir schmeißen ihn einfach raus!", ruft der junge Mann und drückt auf den Stop-Knopf.
"Das wäre eine Vorverurteilung", erklärt Jacob. "Hierzulande unzulässig."
"Egal!", ruft der junge Mann. "Ich sag: Raus mit ihm!"
Die Menschen außen herum geben ein zustimmendes Raunen von sich.
"Alle werden uns für Rassisten halten!", ruft Wilhelm verzweifelt.
"Falls der Herr sich tatsächlich als Terrorist herausstellt, werden wir von den Medien wohl zu Helden erklärt werden", erwidert Jacob trocken.
"Wir werden Helden!", ruft der junge Mann.
"Auf wessen Seite bist du eigentlich?", fährt Wilhelm seinen Bruder an.
"Oh, ich verfolge kein politisches Ziel", erklärt Jacob. "Ich denke nur mit."
"Wie auch immer", Wilhelm schüttelt den Kopf. "Ich geh jetzt mit dem Terroristen reden!"
"Aber Sie haben doch gesagt er ist keiner!", schaltet sich die alte Frau wieder ein.
"Dem vermeintlichen Terroristen!", ruft Wilhelm.
"Ich hätte nicht vermutet, dass du dich vom Druck des Volkes zu Aktionismus verleiten lassen würdest", stellt Jacob fest.
"Was soll ich denn tun, wenn sie auf ihn losgehen wollen?", ruft Wilhelm aufgeregt.
"Natürlich das bessere Argument ins Feld führen", meint Jacob.
"Aber darauf hören sie ja nicht!", Wilhelms Stimme wird immer höher. "Und egal was ich mache oder ob ich was mache, es wird mir immer negativ ausgelegt!"
"Außer du behältst Recht damit", nickt Jacob.
Wilhelm schneidet Jacob mit seinem Blick in tausend Stücke. Seine Hände krampfen sich so fest um seinen Gehstock, dass man das Holz schon knarren hören kann. Da keimt plötzlich Hoffnung in seinem Blick auf, als der Bus an der nächsten Haltestelle hält. Menschen steigen zu, die noch nichts von der schlechten Stimmung mitbekommen haben.
"Hier ist ein Terrorist im Bus, den machen wir fertig!", dröhnt jedoch schon die Stimme des jungen Mannes los.
"Wir machen hier niemanden fertig!", versucht Wilhelm dagegen zu halten, während der Bus wieder anfährt. "Wir sollten einfach mal mit ihm reden!"
"Mit Terroristen kann man nich reden!", donnert der junge Mann.
"Die können ja nicht mal Deutsch", pflichtet die alte Frau ihm bei.
"Bruder, ich glaube die Situation ist dir endgültig entglitten", stellt Jacob fest.
"Ach, was du nicht sagst!", fährt Wilhelm seinen Bruder scharf an. "Ich muss doch trotzdem versuchen-"
"Alle zusammen machen wir die Sau platt!", ruft der junge Mann, an den Bus gewendet.
Die Insassen jubeln und reißen die Arme hoch.
"Seid ihr dabei?" Der junge Mann genießt sichtlich seine Stadionsprecher-Macht. Die Leute feiern ihn, schreien: "Ja!" Und skandieren dann: "Wir machen dich platt! Wir machen dich platt! Wir machen dich platt!"
Wilhelm ist wie gelähmt vor Schock, während Jacob einfach nur missbilligend den Kopf schüttelt. "Das ist doch keine Art", murmelt er.
"Auf ihn!", brüllt der junge Mann und die Meute wendet sich nach-
"Wo ist er denn?", fragt eine Stimme.
"Äh... gerade war er doch noch da", der junge Mann grübelt.
"Ist er...?", Wilhelm schaut sich im Bus um.
"Ausgestiegen", konstatiert Jacob. "Ja."
"Oh", macht der junge Mann.
Dann kracht es. Der Busfahrer hat - gebannt von dem Schauspiel - vergessen auf die Straße zu sehen. Beim Aufprall auf den Betonmischer werden die Insassen des Busses wild durcheinander geschleudert. Scheiben gehen zu Bruch. Jacob und Wilhelm halten sich schützend die Arme vor ihre Gesichter.
Schließlich steht der Bus und es ist still.
"Na toll", seufzt Wilhelm und schüttelt die Scherben aus seinem Haar. "So kommen wir ja gut voran."