lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
2017
 
Christina Madenach
 
 
Gelesen im literaturlabor 2017
 
Du in 10 Jahren
 
Frage: Wirst du etwas zu essen und trinken haben? Was wirst du essen? Egal was? Hauptsache, du wirst satt werden? Auch wenn andere dadurch hungrig bleiben? Wirst du auf Kosten anderer essen und trinken? Ihr Essen essen und ihr Wasser trinken? Sie essen? Oder wirst du zu denen gehören, die gefressen werden? Wirst du dich dagegen wehren können? Weil dafür nur Stärke und Willen notwendig sind? Wirst du die, die nicht so willensstark sind wie du, mit Genuss verspeisen können? Weil sie selbst schuld sind?

Antwort:

Frage: Wirst du gesund sein? Oder wird dein Bauch zwicken, dein Hals schmerzen und dein Kopf brummen? Oder wirst du depressiv werden, an Verfolgungswahn leiden und deine Hände stündlich waschen müssen? Wirst du dann wissen, dass du krank bist? Auch wenn du dich nicht krank fühlst? Wenn dein Bauch schon immer gezwickt hat und Händewaschen dir eine Befriedigung gibt, die dich besser fühlen lässt? Wirst du trotzdem krank sein? Oder erst dann, wenn Ärzte versuchen dich wieder gesund zu machen? Werden sie dich überhaupt fragen, ob du gesund werden willst?

Antwort:

Frage: Wirst du ein Dach über dem Kopf haben? Wird das Dach wasserdicht sein? Werden die Wände, die das Dach tragen, einem Wind standhalten? Wird der Boden, auf dem du schläfst, nicht von überflutenden Bächen weggetragen? Und wenn doch, wirst du dein Dach eintauschen gegen ein anderes Dach an einem anderen Ort, wo es weniger Regen, Wind, Bäche, Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg, Zerstörung gibt? Und wenn das neue Dach nur vorübergehend ist, wirst du dein Dach jährlich wechseln? Monatlich? Wöchentlich? Täglich? Wirst du deine früheren Dächer vergessen? Wirst du dich von allen Erinnerungen lösen? Ohne Vergangenheit sein? Mit oder ohne Zukunft?

Antwort:

Frage: Wirst du arbeiten? Viel oder wenig? Wird dir die Arbeit Spaß machen? Wirst du dich fragen, warum du arbeitest? Wegen des Geldes, wegen der Erfüllung, wegen der Karriere, weil du dich sonst langweilen würdest oder einfach, weil eben jeder arbeiten muss? Wirst du an manchen freien Tagen im Gras in der Sonne liegen und dich fragen, warum es eigentlich so ist, dass jeder arbeiten muss? Wirst du es nicht verstehen? Wirst du aufhören zu arbeiten? Vom Geld anderer leben? Vom Sozialstaat? Oder wirst du weiter arbeiten? Aufs Wochenende, die Ferien, die Rente warten?

Antwort:

Frage: Wird das Land, in dem du lebst, dein Land bleiben? Mit den gleichen Grenzen, die einmal gezogen worden sind? Oder werden sich die Grenzen verschieben? Oder die Bevölkerung ändern? Werden andere Menschen hier leben, und du wirst woanders leben? Oder wirst du hier leben aber ein anderer Mensch werden? Wirst du dann merken, dass du anders bist? Oder bist du jetzt anders, und wirst dann normal werden? Ist jetzt alles gut und wird schlechter werden? Oder ist jetzt als schlecht und wird besser werden? Wirst du wissen, was gut und schlecht, anders und normal, richtig und falsch ist?

Antwort:

Frage: Wirst du frei sein? Zu tun und denken, was du willst? Dahin zu gehen, wohin du willst? Ohne, dass jemand weiß, wohin du gehst? Ohne, dass dich jemand vermissen wird? Wirst du nur, wenn du alleine bist, ganz frei sein können? Wird die Leere dir den Raum geben, deine Flügel auszubreiten? Oder wird sie ein Loch bilden, in das du fällst? Wird dort niemand stehen, der dich fängt? Wirst du deshalb die Einsamkeit scheuen? Auf die Freiheit verzichten? Lieber gehalten werden?

Antwort:

Frage: Wirst du jemanden mögen? Wirst du mehrere mögen? Wird dich jemand mögen? Wie wird sich eure Zuneigung äußern? Werdet ihr euch nacheinander sehnen? Voneinander träumen? Werdet ihr diese Träume erfüllen? Die Sehnsucht befriedigen? Wirst du wunschlos glücklich sein? Wirst du alles haben? Von nichts mehr träumen können? Oder von neuen, anderen Dingen träumen? Immer mehr wollen? Nie zufrieden sein? Oder nur träumen um des Traumes willen? Weil sich nach etwas zu sehnen schöner ist, als es zu haben? Auf die Liebe in der Realität verzichten, weil sie in der Vorstellung prachtvoller ist?

Antwort:

Frage: Wirst du Kinder haben? Warum wirst du Kinder haben? Weil es einfach so passieren wird oder weil sie deinem Leben einen Sinn geben werden? Werden sie zu deiner Aufgabe, wichtiger als Arbeit oder Hobbys? Wichtiger als alles andere? Wird dein Kind dir dankbar dafür sein? Wird dein Kind sein Leben, das du ihm geschenkt hast, lieben? Oder wird es sein Leben hassen? Wird es denken, dass es nur deine Entscheidung gewesen ist, dass es nie gefragt wurde, ob es überhaupt leben will? Wird es das Geschenk nicht annehmen wollen oder es zurückweisen? Wird es dich um Erlaubnis fragen, wenn es seinem geschenkten Leben wieder ein Ende setzen will?

Antwort:

Frage: Wirst du traurig sein? Wird ein Schmerz dich jeden Tag begleiten? Wirst du weinen? Wirst du schreien? Wird dich die Trauer so verändern, dass du nie wieder so sein kannst, wie du es warst? Wirst du dann an den Moment jetzt zurück denken, als du dir noch nicht vorstellen konntest, dass das einmal eintreten würde? Wirst du dich noch daran erinnern können, wie es gewesen ist ohne Trauer und Schmerz? Oder wirst du wieder lachen können? Wirst du dann aber ein schlechtes Gewissen haben, weil du wieder glücklich bist? Kannst du überhaupt jetzt noch glücklich sein mit dem Wissen, dass das Glück endlich ist?

Antwort:

Frage: Wirst du ein Teil der Gesellschaft sein? Ein akzeptierter Teil? Oder ein Außenseiter? Ein akzeptierter Außenseiter? Ein anerkannter Außenseiter? Wirst du die Gesellschaft ändern? Oder wird sie dich ändern? Oder wirst du sie in dem bestätigen, was sie ist? Wird sie in dir ihren Antagonisten finden? Wirst du der Linke, der Soziale, der Intellektuelle, der Künstler, der Kommunist, der Pazifist, der Öko sein, in dem die Gesellschaft ihr Feindbild finden wird? Durch das sie sich selbst identifizieren kann? Wirst du damit zur Identität einer grauen, schwammigen, gesichtslosen Masse beitragen? Ihr Schärfe verleihen?

Antwort:

Frage: Wirst du ein Mann oder eine Frau sein? Oder keins von beidem? Wirst du mit Frauen oder Männern zusammen sein? Oder mit beiden? Oder mit keinen von beiden? Oder wird es vielleicht diese Unterscheidung gar nicht mehr geben? Werden irgendwann einmal alle gleich sein? Bedeutet das, dass alle gleich behandelt werden? Oder, dass es keine Unterschiede mehr geben wird? Wirst du nicht mehr einzigartig sein? Wirst du dich in die Masse der Gleichen einfügen können? Wird es dir egal sein, ob du Mann oder Frau bist? Du oder die Person neben dir? Oder hast du Angst, deine Individualität zu verlieren?

Antwort:

Frage: Wirst du wissen, wer du eigentlich genau bist? Wirst du vor dem Spiegel stehen und dich erkennen? In deine Augen blicken und dir vorstellen können, dass das die gleichen Augen wie jetzt sind? Wirst du denken, das bin Ich? Wirst du dich fragen, wer Ich ist? Wirst du eine Antwort finden? Wirst du andere danach fragen? Und was wirst du machen, wenn dir jeder eine andere Antwort geben wird? Wenn du nicht Ich sondern Wir bist? Ein Wir, das aus vielen Ichs besteht? Und wenn die Ichs sich nicht verstehen? Sich gegenseitig bekämpfen? Wenn sie sich gegenseitig zerstören? Wenn du die Zerstörung nur aufhalten kannst, indem du dich für ein Ich entscheidest? Aber was wirst du machen, wenn du dich nicht entscheiden kannst?

Antwort:

Frage: Wirst du an etwas glauben? Weil glauben eben nicht wissen ist? Und es deshalb so einfach geht? Weil du dir aussuchen kannst, an was du glaubst? Weil es egal ist, an was du glaubst? Weil es nur um den Glauben an sich geht? Weil du sonst begründen, beweisen müsstest? Und du keine Beweise hast? Für das, woran du eigentlich nicht glaubst? Nicht einmal weißt, warum du nicht glaubst? Was es bedeutet, nicht zu glauben? Wirst du deshalb versuchen zu glauben? Weil zumindest niemand danach fragt, was glauben bedeutet?

Antwort:

Frage: Wirst du denken? Wirst du dir Fragen stellen? Wirst du anderen Fragen stellen? Wirst du ihre Fragen beantworten? Wirst du lügen? Wen wirst du anlügen? Warum wirst du lügen? Wirst du auch noch denken, dass du lügst, wenn dir alle anderen sagen, dass es keine Lüge ist, sondern die Wahrheit, die du sagst? Wirst du denken, dass du zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden kannst? Oder wirst du denken, dass andere diesen Unterschied kennen? Oder wirst du dich an ein Gericht wenden, damit es entscheidet, wer lügt und wer nicht? Wirst du dir sicher sein, dass das Gericht nicht lügt? Wirst du das Gericht anklagen?

Antwort:

Frage: Wirst du etwas Bleibendes schaffen? Wird es ein Kunstwerk sein? Ein Buch, ein Bild? Bis wann wird es existieren? Bis zu einem Krieg oder einer Umweltkatastrophe? Wird es das überleben? Und was wird damit geschehen, wenn der Mensch irgendwann ausgestorben sein wird? Werden die Tiere deine Kunst bewahren und konservieren? Wird sie irgendwann in Jahrtausenden wieder gefunden und nicht verstanden werden? Oder wird es ein Gedanke oder eine Idee sein, die du hinterlässt? Die bleibend ist? Die die Welt retten oder sie zerstören wird? Wird man sich an dich erinnern? Wird das, was du tust, von irgendeiner Relevanz sein? Wird es von Relevanz sein, wenn du einfach im Gras in der Sonne liegst?

Antwort:

Frage: Und jetzt?