lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Clemens Kuhnert
 
 
Quintus Horatius Flaccus
(Horaz)
Quintus Horatius Schlappohr
(Horaz)
   
Liber primer Erstes Buch
XXII: An Aristius Fuscus 22: An Aristius Fuscus*
   
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   Fusce, pharetra,

sive per Syrtis iter aestuosas
sive facturus per inhospitalem
Caucasum vel quae loca fabulosus
   lambit Hydaspes.

namque me silva lupus in Sabina,
dum meam canto Lalagen et ultra
terminum curis vagor expeditis,
   fugit inermem,

quale portentum neque militaris
Daunias latis alit aesculetis
nec Iubae tellus generat, leonum
   arida nutrix.

pone me pigris ubi nulla campis
arbor aestiva recreatur aura,
quod latus mundi nebulae malusque
   Iuppiter urget,

pone sub curru nimium propinqui
solis, in terra domibus negata:
dulce ridentem Lalagen amabo
   dulce loquentem.
aufrechten sinns und ganz mit sich im reinen
braucht er der Mauren lanzen nicht noch bogen
und nicht vom gift der pfeile schwanger
  Fuscus, den köcher.

weder wo Syrtes glut ins meer verbrandet
noch wo als Kaukassus sich was gemachtes
unwirtlich zeigt, noch dort wo sagen nach
  schlägt der Hydaspes.

denn auch die wölfin im Sabinawalde
da ich für Lalage sang und entspannt
über die maßen unbekümmert vorging
  floh mich entgeistert.

so was von ungetüm ist weder streitbar
tief in Apuliens eichenwäldern stämmig
noch im Numidierreich genährt, das löwen
  brütend bemuttert.

bringe mich hin wo ausgedörrt am felde
sommers kein hauch im baume fächelt
weil sich der himmel ganz bedeckt und düster
  Jupiter nachsinnt.

bringe mich vor das rad der rasch zu nahen
sonne, ins land, das siedeln sich verbietet:
süß wo sie lächelt lieb ich Lalage
 süß wie sie plaudert.
 

* Anm.: Wenn sich der Horatius "Schlappohr" nennt, dann ist leicht anzunehmen, dass der "Aristidius", welchen er anspricht, ins Deutsche übersetzt nicht weniger dumm geheißen haben könnte. Es gibt Worte in Richtung "Fuscus", die so was wie "dunkel" bedeuten. So habe ich in anderem Zusammenhang diesen Namen mit "Schwachkopf" übersetzt, was sowohl im Lateinischen, wie im Deutschen, zu der Art und Weise seines Auftauchens passen würde. Hier habe ich den „Fusce“ als „Fuscus“ gelassen, weil ich mir nicht sicher geworden bin darüber, ob es nicht falsch sei, dies anders zu tun. Bei aller Unsicherheit will ich mit meiner Übersetzung dennoch angeben. Sie ist eine von vielen, die im Internet zu finden sind. Wie entsprechende  Interpretationen schwanken sie in der Frage, auf welche Philosophie sich Horaz in den ersten Zeilen bezieht und ob das Gedicht nun Liebesgedicht sei oder ein Gedicht zur richtigen Art der Lebensführung, welche einen auch als Dichter äußeren und inneren Gefahren besser trotzen lässt: Ich denke ich habe die verschiedenen Deutungen schlüssig und am Originaltext bleibend zusammen geführt. So lese ich den Wolf als weiblichen und damit als den der römischen Gründungsmythologie und damit auch als Bild des Staates, der den beiden Ziehsöhnen der Wölfin folgte und gleichzeitig sehe ich ihn aus dem Unbewussten einer Frau auftauchen, der man zu schwach kam: Wie der Staat, auf den Horaz Bezug nimmt, schätzt sie die Freizügigkeit und Unbekümmertheit mancher Gesänge seiner Dichter wenig. Der Dichter selbst sieht sich daher auf beiderlei Ebenen in der Disziplin, seine Worte besser zu zügeln und das rechte Maß zu halten zum beiderseitigen Besten. Ich kenne die Philosophie von Lukrez nicht, aber Epikur könnte sicher Pate gestanden haben bei dem Anspruch an die Lebensführung, der sich hier zeigt. So liebt der Dichter in der sich entziehenden Frau, der er sich gegen jede Gefahr wieder nähern will, auch seine und ihre Sprache und wie sie diese spricht. Folgerichtig ist "Lalage" der Name für die römische Göttin des Plauderns und wird also die konkrete Frau auf ein Bild von der Frau transzendiert, welches über die Männer, wie schon in Bezug auf die sie nährenden Mütter (und das Gedicht nennt einige davon) nicht weniger aussagt, als über die Frauen: Nämlich darin wie sie sich nähern und was sie bereit zu tun. So drohen die Gefahren, welchen er gewillt ist, offen zu begegnen, auch von zwei Seiten und sie entsprechen sich wechselseitig als jeweiliges Gegenteil des anderen: Zum einen ist es die nach Entladung strebende Verdunkelung der Welt, welche eine des Gemütes ist und in ihrer Macht auch eine des Gottes und zum anderen ist es das Übermaß jener Sonne, welche sich wie Helios Sonnenwagen, als Bild für das Licht der Vernunft, bei einem überhitzten Verstande todbringend der Erde nähert: Hier und wie in allen Versen des Gedichtes lässt sich an die Frau denken, an den Mann, der sich ihr nähern möchte, den schreibenden Dichter im Verhältnis zu seinem Text und den römischen Staat im Bild der Frau. Gerade das Fehlen von Vorurteilen in Hinblick auf weibliche und männliche Geschlechterrollen lässt den Text offen werden für Lesarten, die sowohl die Frauen, als auch die Männer seiner Zeit gleichermaßen betrafen und heute immer noch zutreffen: So verletzte die Freizügigkeit der Rede heute weniger im sexuellen Bereich, hier ist wohl mehr möglich, als zur Zeit des Horaz, sondern eher in Bezug auf Geschlechterrollen und Ansprüche: Doch darin entspricht es der Zweigleisigkeit des Gedichtes, denn egal, welche Freizügigkeit Horaz gedacht hat, er sieht in seinem persönlichen Verhalten gegenüber der Frau auch das Gesellschaftliche und darin das Poethologische.
Dass dies alles nicht in zu launigem oder etwa zu schlüpfrigen Ton zu übersetzen sei, was auch möglich wäre und zweifellos auch anklingt, das verbietet sich bei dem Sohn eines freigelassenen Sklaven, der sich als Militärtribun am Aufstand gegen Caesar beteiligte und in den Sabinerbergen nicht ganz ohne Grund fernab von Rom seinen Sabina trankt, wie von selbst: Dieser Mann wusste gut wovon er sprach und wo sowohl im Krieg, als auch in der Liebe, die wirkliche Gefahren liegen und er mochte sicher sowenig harmlose Scherze machen, wie irgendeine seiner Geliebten oder Lieben und sich selbst damit bloß stellen: All dies muss ihm unangemessen erschienen sein und die im Gedicht gezeigten Zusammenhänge sind tatsächlich so wichtig, wie wirksam. Dass Horaz sein Dichtersein nicht als Zeitvertreib und galantes Vergnügen betrachtete, dies erkennt man schon daran, dass ihn die Unwirtlichkeit am Kaukasus an Waffen denken lässt und wenn jemand am Kaukasus sich unwirtlich zeigen konnte, dann einer der Prometheuse seiner Gegenwart, die den Adlern mit ihren Innereien nur wenig Futter zu geben hatten, aber noch jeden Köcher mit ihrem Giftpfeilen schwängern wollten und zwar mit größtmöglichsten Waffen oder Waffenhilfen, also aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus feige. Mag man auch über viele Details der Übertragung aus dem Lateinischen streiten wollen: Wovon ich ausgehe bei einem Mann, dessen Texte 2000 Jahre überdauert haben, dann davon, dass ich ihn nicht einschränken sollte, weil mir zunächst Einiges als widersprüchlich erscheint oder ich es nicht im Zusammenhang verstehe, so wie es mir bekannt gewordene Übersetzer und Interpreten in einigen Deutungen taten. Wovon ich auch ausgehe ist, dass sich in den meisten Dingen der Mensch in diesem Zeitraum nur wenig veränderte. Was Letzteres beweist ist, wie gut ich verstehe, wovon hier die Rede ist und wie gut es sich daher fügte. Was also jede Einschränkung von Horaz zeigen würde, das wäre nur einen eigenen beschränkten Horizont. Dass die Dichter mit beschränkten Horizonten heute bei vielen ihrer Leser zu rechnen haben, daran sind sie in vielen, aber bei weitem nicht in allen Fällen selbst schuld. Das Leidwesen erzeugt dabei nicht eigentlich die Beschränkung, sondern die Voreingenommenheit, mit der Unverstand gepaart mit Berührungsängsten in der Begegnung mit allem Fremden zur gängigen Methode erklärt wird. Doch auch dies täte nur wenig zur allgemeinen Sache, wenn wir uns nicht Alle in unserer Rede und in allen Bereichen unseres Denkens und Machens einer wachsenden Anzahl auftauchender Ungetüme zu erwehren hätten. Begegnen wir ihnen, wie es Horaz schon geraten hat: Ohne Furcht der Wahrheit verpflichtet, nur folgt daraus erstmal ein Anspruch an einen selbst. (18.06.2010)

 
literaturlabor 2009
 
alchemie von mann und meer
 

und gleicht der kosmos dem
nach dem sich alles richtet

so gleicht er doch der erde
mit allem was sie nicht ist.

der himmel gleicht dem meer
sie treffen sich im licht

zum meer hält nun das land
im wandel gleichgewicht.

doch gleicht die haut nicht nur
dem stein auf dem sie sitzt

sie ist der sonne brennen
und wo die sonne schwitzt.

und wenn sie selbst in einem
aus luft ist und aus wasser

so schwimmt sie doch in beiden
und hilft zu unterscheiden.

und so gleicht auch der mensch
nun allem was er kennt

wie horizont und küste
vereint er was er trennt.

und ist das wort nun eines
mit allem was es nennt

so ist es auch das gleiche
was sich von allem trennt.

 
 
lenin im bilde
 

gewaltig umfängt mich die plötzliche stille
im bauche des wals. in diesem hier liegen
die sachen befreit von begehren und spiegeln
den frühling freundlich und flach. sie sollen
nur sein was sie scheinen. ich treffe marie

wie jeden werktag beim weg zur fabrik
am ufer der strasse. die linien der fahrbahn
richten im lärm der zweitaktmotoren
über den bäumen die zeilen der wohnblocks
zum himmel gewuchtet. die kurven maries

sortieren zur frühlingssonne die blüten
im roten kunststoff zur geometrie
des kühlen morgens. ein hauch von trübnis
nimmt den haaren zum helm gefestigt
die modische strenge. beim anblick lenins

strafft sich ihr rücken. er schreitet so riesig
als hebe ein chor ihn heroisch umweht
vom schwarzen mantel. doch dachte lenin
an sex mit marie? – vor seiner klarheit
beug ich den nacken. die neben ihr tragen

die gleichen sandalen, nur ist es marie
allein der sie passen. ein spärlicher rasen
flutet den teerweg mit sand. es wartet
die katze am werktor. jahrtausendelang

prüft mich ihr blick. hier nehme ich ausgang.
 
 
insel der jugend
 

im rücken die musik
die wellen schlägt, das wasser
selbst liegt starr und riecht
nach totem hund. du gehst

zurück zur bar, wo schwarz
der fremde raum durch augen
zweier elfen dich fixiert:
was suchst du hier? ein blick

der dich verfolgt. da war
ein riesenrad im park
das wie die welt um dich
für immer steht. da war

die flasche die zersprang
und anders als im traum
in scherben blieb. ein hieb.
da war ein kampf. es treibt

der hammer der musik
dir nägel durch den kopf
und wasser hebt das bett:

du musst hier weg. doch wie?
 
 
lauter niemand 6
 
schwarzer sänger
 

sie wirken abgestimmt: die finger
die den ascher drehn, der nagel
der den filter stanzt, der arm
der sich zur flasche hebt: der schwarze
schlägt die saiten, seine sohle
wippt zur mundharmonika
am kopfgestell aus stahl. er singt

was sicher ist: aus diesem leben
hier kommt niemand lebend raus.

die weisse billardkugel springt
übern stock und über bande,
tackert das parkett, es schließt
die frau ihr buch und lächelt sanft
den spieler an. ein weinglas geht
im trocknen tuch zu bruch, der barmann
leckt die hand. der schwarze singt

was sicher ist: aus diesem leben
hier kommt niemand lebend raus.

warum der rotgestrählte schopf
zum takt im rahmen nickt? -  die tür
knallt laut ins schloss. ein blumenkelch
der leer den tresen ziert geht rund
bevor die pause stört. das geld
reicht für ein bier. der schwarze singt

was sicher ist: aus diesem leben
hier kommt niemand lebend raus.

 
 
literaturlabor 27.03.2005
 
urbanhafen
 
die weiden beugen sich über den bogen
der mauerkrone zum fluss. kristallen
glitzert vom raureif der rasen. die pfützen
starren vereist aus dem weg. sein schlamm
bewahrt die karte der spuren von gestern.

am anderen ufer ruhen die kähne
versenkt in ihr eigenes bild. die schwäne
teilen erhaben den spiegel, die wellen
verzerren die krankenhausfluchten, die frau
die aus der erinnerung winkt verschwimmt.

befreit von der leine entziffert mein hund
die botschaft gefrorener fährten. gesichter
flackern im lichtspiel des wassers, die sonne
sinkt zu den firsten herab, geblendet
heb ich den flachmann und spüre es brennen.
 
 
literaturlabor 18.05.2003
 
hyazinthen
 
es ist an der zeit - auf schräger erdachse dreht sich
beiläufig alles ins licht. auf straßen fand schnee
sein vergessen. doch auch sonnenschein trägt

kein bewußtsein. auch baumknospen treibt
kein bestimmter sinn. den blumenstiel geilt
kein gezielter wille. auch singvögel treiben

es ohne gewinn. warum ein kleid knie zeigt
bleibt in der schwebe, nur liegt das steuerrad
leicht in der hand, werfen radkappen blitze

im raschen verkehrsfluss - allein ein passant
fällt aus der bewegung, die lider gesenkt
im sog der geöffneten türen. hinter den schwellen

vertiefen sich stündlich die schatten im gang.
 
 
lauter niemand 2
 
Clemens Kuhnert
fleisch
 
halbdurch. dein messer gleitet. ein brocken fleisch, 
geschmack von blut in deinem mund. im brei, 
im süßen brei, den deine zunge mir im kuß, 
in kußverbrannte lippen schiebt. einen tierblick, 
groß und sanft und ohne angst. wir teilen.

primaten himmelreich hormonbefeuert hirnkopulation. gewalt, 
in aller unschuld genen überlebenstrick, fortschritt, evolution: 
fit bleibt gesund. am keim im fleisch vermodern paradiese. 

kein blatt vor dem mund. verlangen schreiben 
die zungen ins fleisch. im zugriff der schenkel 
schlagen bäuche sich taktvoll. den geschmack 
bestimmt kein wort. bestimmt kein schrei, 
wie stille bebt wenn körper stöhnend springen.

nur knoten im netz. neuronen synchron geschossen, 
ein regelkreis: augenblicken angepaßt ein gesicht. ein selbstbild, 
verrückt mit der zeit. gegen besseres wissen wehrt es sich. 

aus fleisch und blut. ein gelöstes versprechen 
trocknet kühl auf der haut. ein nachgeschmack 
uns auf lippen geräkelt. ein anderer name 
wie der atem vertraut. fleisch. ein lächeln, 
das die zähne zeigt. zerkaute küsse. süß.

stromkreis geschlossen. beschleunigen worte im zyklotron, 
implodieren bilder zusammengeschossen. ein feuchtfilm, 
der sich gefühlsecht träumt: dich und mich und anderes.

wirklich zeitzeuge war ich nur dir. und alles, 
woran ich dich erkennen kann ist dein geruch. 
niemand sonst trägt ihn. fleisch. in erwartung 
von sattsam bekanntem schlucke ich dann 
so schwer an mir fremd gewordenen sätzen.