lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
(16.12.2002)
 
Herbert Braun
 
 
Polemische Poetik
 

Poetik? Das klingt nach Theorie und Lyrik, damit habe ich nicht viel zu tun. Die Theorie ist ein Afterphänomen der literarischen, der künstlerischen Praxis; wer das Gegenteil behauptet, ist ein habilitierter Sonntagsreimer oder ein Lügner. Wo liegt also der Sinn der Übung? Nach 15 Jahren Schreibpraxis voller Widersprüche und Widerrufe mag der Zeitpunkt für eine Standortbestimmung sein. Außerdem ist die Nabelschau eine narzißtische Exerzitie, und jeder, der für andere schreibt, ist eitel, nicht wahr?

Mehr wird darüber zu sagen sein, was ich nicht will. Das ist einfacher und macht mehr Spaß. Falls sich jemand beleidigt fühlen will: ja, es ist persönlich gemeint. Wer nicht selbst angegriffen ist, wenn seine Texte unter Beschuß liegen, sollte mit dem Schreiben aufhören. Vieles von dem Kritisierten habe ich selbst durchlebt, geglaubt, versucht; hinter mich gebracht.

I Besser häßlich als tot

Die nekrophile Verfeinerungsästhetik der Fin-de-siècle-, Fin-de-millennium-Poeten kotzt mich an. Wer sich vom Ende her definiert, sollte nicht anfangen. Was mich interessiert, ist das Leben, nicht der Tod. Ich will nicht betäuben, ich will nicht betäubt werden. Nie wieder will ich Luxusgedichte hören über Prenzlauer Bergs neu ausgeleuchtete Hinterhöfe, über Fernsehseriencharaktere im Zwielicht der Lavalampen. Lieber als Lyrikbände lese ich Obdachlosenzeitungen. Keine plumpe Solidarisierung, Interesse an Geschichten. Der alte Vergleich mit den Pflanzen stimmt. Es wird nicht gemacht, es wächst. Aber wie soll etwas ohne Wurzeln wachsen? Das versteht doch jedes Kind. Lustvolle Selbstbefriedigung ist legitim, aber man darf sie nicht mit einem schöpferischen Akt verwechseln. Wo es nur noch Inszenierung gibt, ist die Kunst tot. Wir arbeiten daran.

Worte sind ein Hilfsmittel, mehr nicht. Die Botschaft ist eigentlich nicht geeignet dafür. Wie wenn man eine Zeichnung macht auf einem Blatt Papier. Wer die Worte wegen der Worte aufschreibt, bleibt flach. Wer damit zufrieden ist.

II Die Sprache lügt

Immer schon hat die Sprache gelogen, und sie tut es mehr und mehr. Reden ist bestenfalls der Versuch, Mißverständnisse zu minimieren, Schreiben oft genug das Gegenteil. Was sich reimt, stimmt, sagt das Gedicht. Die Wahrheit paßt nicht ins Metrum. Die Wahrheit steht zwischen den Zeilen: die angerauhte, weiße Körnung des Papiers. Die Dinge lügen auch, aber es ist nicht ihre Schuld. Unsere Köpfe sind auf das hastige Klappern der Worte dressiert; die Dinge müssen belagert werden.

III Für jedes schwierige Problem gibt es eine einfache Lösung

Die immer wiedergekäuten Fragen, die in ihrer sogenannten Gebrochenheit so geradlinigen Charaktere, die üblichen Probleme … und vor allem die bohèmehafte Katerstimmung in den Versen ersticken jedes Interesse. Die hormonell bedingte, juvenile Weltschmerzliteratur, die seit 200 Jahren die Geistesgeschichte verpestet, muß jeder durchmachen. Auch Schreibende waren einmal 17, aber sie sollten es nicht bleiben. Für jedes schwierige Problem gibt es eine einfache Lösung, und sie ist falsch. Die vitale Komplexität, die natürlichen Widersprüche sind so viel interessanter als die zweidimensionalen, rhythmisierten Diagramme der Weltentwerfer und Rätsellöser. Eine sehr einfache Lösung, nicht wahr? Siehe oben.

Ach ja, die Ironie. Schülerzeitungen sind voll davon. Nur in Verbindung mit Leidenschaft genießbar.

IV Das Ungleichgewicht halten

Ich widerspreche mir, weil ich lebendig bin. Die Balance, die metaphysisch verzuckerte Planierung des Gegensätzlichen, ist eine totalitäre Fiktion. Schöpferisch zu sein bedeutet, auf dem Drahtseil zu spazieren, ohne ins Gleichgewicht zu fallen. Der Text muß weh tun, seine Kletterhaken dürfen nicht wegdialektisiert werden. Nichts darf übrig bleiben, das zu erklären ist; nichts, das in einfache Sätze paßt. Wozu sonst der Aufwand? Der Text soll wirken wie der Druck einer Klaviertaste. Nicht auf den Hörer, auf das Klavier.

V Die alleinseligmachende Dreifaltigkeit

Die Fähigkeit zu fühlen, die Fähigkeit zu formen und die Fähigkeit zu denken. Die einfältigen Texte werden in der Regel nicht mit Literatur verwechselt, bleiben die fortgeschrittenen Defizite. Das mit dem Denken wollen wir gleich zurückstellen; es ist die entbehrlichste Begabung. Ohne gestaltendes Talent kommt ein philosophisches Tagebuch, kein Kunstwerk heraus, Kunst kommt ja von Können, nicht wahr. Aber Können kann man lernen, und wer etwas zu sagen hat, wird seine Form finden. Aber läßt man das Gefühlte, Erlebte, Erfahrene weg, reift uns der Pickel am Arsch der Literaturgeschichte entgegen, für den sie oder er gerne den Begriff „Postmoderne“ verwendet. Da sich postmoderne Texte nicht aus dem seelischen Humus des Dichters speisen, sondern aus dem Granulat seines literarischen Wissens, reduziert sich ihre Aussage auf a) nachts sind alle Katzen grau; b) alles stimmt, aber auch das Gegenteil; c) alles ist schon gesagt worden, auch dies; d) ich will spielen, mir ist langweilig. Jede Zeit hat die Kunst, die sie verdient. Der triste Konterpart zu den Seifenoperndarstellern und Singmiezen, die in jedem Interview stolz betonen, daß sie nie gelernt haben, womit sie reich werden.

VI Was ist, was war

Auf toten Organismen wächst neues Leben, tote Kulturen aber werden gesalbt, mumifiziert und in ihrem Wohlgeruch ausgestellt. Wäre ich Optimist, würde ich sagen, daß dieses Land, diese Kultur und diese Sprache bewußtlos ist. Ich staune über jeden Ausländer, der Deutsch lernt; aber es wird ja auch noch Latein gelehrt. Wie für dieses wird es vielleicht auch für das Deutsche einige Nischen geben. Philosophie, Militär, Verwaltungsverordnungen etwa. Es ist demoralisierend, wie weit wir hinter die Avantgarde von vorgestern zurückgefallen sind. Nicht einmal mit den fünfziger Jahren können wir mithalten, die zwanziger verstehen wir gar nicht erst. Das ästhetische Experiment hat sich vom Inhalt abgekoppelt.

Habe ich mich klar ausgedrückt?