Poetik?
Das klingt nach Theorie und Lyrik, damit habe ich nicht viel zu tun.
Die Theorie ist ein Afterphänomen der literarischen, der künstlerischen
Praxis; wer das Gegenteil behauptet, ist ein habilitierter
Sonntagsreimer oder ein Lügner. Wo liegt also der Sinn der Übung? Nach
15 Jahren Schreibpraxis voller Widersprüche und Widerrufe mag der
Zeitpunkt für eine Standortbestimmung sein. Außerdem ist die Nabelschau
eine narzißtische Exerzitie, und jeder, der für andere schreibt, ist
eitel, nicht wahr?
Mehr wird darüber zu sagen sein, was ich nicht
will. Das ist einfacher und macht mehr Spaß. Falls sich jemand
beleidigt fühlen will: ja, es ist persönlich gemeint. Wer nicht selbst
angegriffen ist, wenn seine Texte unter Beschuß liegen, sollte mit dem
Schreiben aufhören. Vieles von dem Kritisierten habe ich selbst
durchlebt, geglaubt, versucht; hinter mich gebracht.
I Besser häßlich als tot
Die
nekrophile Verfeinerungsästhetik der Fin-de-siècle-,
Fin-de-millennium-Poeten kotzt mich an. Wer sich vom Ende her
definiert, sollte nicht anfangen. Was mich interessiert, ist das Leben,
nicht der Tod. Ich will nicht betäuben, ich will nicht betäubt werden.
Nie wieder will ich Luxusgedichte hören über Prenzlauer Bergs neu
ausgeleuchtete Hinterhöfe, über Fernsehseriencharaktere im Zwielicht
der Lavalampen. Lieber als Lyrikbände lese ich Obdachlosenzeitungen.
Keine plumpe Solidarisierung, Interesse an Geschichten. Der alte
Vergleich mit den Pflanzen stimmt. Es wird nicht gemacht, es wächst.
Aber wie soll etwas ohne Wurzeln wachsen? Das versteht doch jedes Kind.
Lustvolle Selbstbefriedigung ist legitim, aber man darf sie nicht mit
einem schöpferischen Akt verwechseln. Wo es nur noch Inszenierung gibt,
ist die Kunst tot. Wir arbeiten daran.
Worte sind ein
Hilfsmittel, mehr nicht. Die Botschaft ist eigentlich nicht geeignet
dafür. Wie wenn man eine Zeichnung macht auf einem Blatt Papier. Wer
die Worte wegen der Worte aufschreibt, bleibt flach. Wer damit
zufrieden ist.
II Die Sprache lügt
Immer schon hat die
Sprache gelogen, und sie tut es mehr und mehr. Reden ist bestenfalls
der Versuch, Mißverständnisse zu minimieren, Schreiben oft genug das
Gegenteil. Was sich reimt, stimmt, sagt das Gedicht. Die Wahrheit paßt
nicht ins Metrum. Die Wahrheit steht zwischen den Zeilen: die
angerauhte, weiße Körnung des Papiers. Die Dinge lügen auch, aber es
ist nicht ihre Schuld. Unsere Köpfe sind auf das hastige Klappern der
Worte dressiert; die Dinge müssen belagert werden.
III Für jedes schwierige Problem gibt es eine einfache Lösung
Die
immer wiedergekäuten Fragen, die in ihrer sogenannten Gebrochenheit so
geradlinigen Charaktere, die üblichen Probleme … und vor allem die
bohèmehafte Katerstimmung in den Versen ersticken jedes Interesse. Die
hormonell bedingte, juvenile Weltschmerzliteratur, die seit 200 Jahren
die Geistesgeschichte verpestet, muß jeder durchmachen. Auch
Schreibende waren einmal 17, aber sie sollten es nicht bleiben. Für
jedes schwierige Problem gibt es eine einfache Lösung, und sie ist
falsch. Die vitale Komplexität, die natürlichen Widersprüche sind so
viel interessanter als die zweidimensionalen, rhythmisierten Diagramme
der Weltentwerfer und Rätsellöser. Eine sehr einfache Lösung, nicht
wahr? Siehe oben.
Ach ja, die Ironie. Schülerzeitungen sind voll davon. Nur in Verbindung mit Leidenschaft genießbar.
IV Das Ungleichgewicht halten
Ich
widerspreche mir, weil ich lebendig bin. Die Balance, die metaphysisch
verzuckerte Planierung des Gegensätzlichen, ist eine totalitäre
Fiktion. Schöpferisch zu sein bedeutet, auf dem Drahtseil zu spazieren,
ohne ins Gleichgewicht zu fallen. Der Text muß weh tun, seine
Kletterhaken dürfen nicht wegdialektisiert werden. Nichts darf übrig
bleiben, das zu erklären ist; nichts, das in einfache Sätze paßt. Wozu
sonst der Aufwand? Der Text soll wirken wie der Druck einer
Klaviertaste. Nicht auf den Hörer, auf das Klavier.
V Die alleinseligmachende Dreifaltigkeit
Die
Fähigkeit zu fühlen, die Fähigkeit zu formen und die Fähigkeit zu
denken. Die einfältigen Texte werden in der Regel nicht mit Literatur
verwechselt, bleiben die fortgeschrittenen Defizite. Das mit dem Denken
wollen wir gleich zurückstellen; es ist die entbehrlichste Begabung.
Ohne gestaltendes Talent kommt ein philosophisches Tagebuch, kein
Kunstwerk heraus, Kunst kommt ja von Können, nicht wahr. Aber Können
kann man lernen, und wer etwas zu sagen hat, wird seine Form finden.
Aber läßt man das Gefühlte, Erlebte, Erfahrene weg, reift uns der
Pickel am Arsch der Literaturgeschichte entgegen, für den sie oder er
gerne den Begriff „Postmoderne“ verwendet. Da sich postmoderne Texte
nicht aus dem seelischen Humus des Dichters speisen, sondern aus dem
Granulat seines literarischen Wissens, reduziert sich ihre Aussage auf
a) nachts sind alle Katzen grau; b) alles stimmt, aber auch das
Gegenteil; c) alles ist schon gesagt worden, auch dies; d) ich will
spielen, mir ist langweilig. Jede Zeit hat die Kunst, die sie verdient.
Der triste Konterpart zu den Seifenoperndarstellern und Singmiezen, die
in jedem Interview stolz betonen, daß sie nie gelernt haben, womit sie
reich werden.
VI Was ist, was war
Auf toten Organismen
wächst neues Leben, tote Kulturen aber werden gesalbt, mumifiziert und
in ihrem Wohlgeruch ausgestellt. Wäre ich Optimist, würde ich sagen,
daß dieses Land, diese Kultur und diese Sprache bewußtlos ist. Ich
staune über jeden Ausländer, der Deutsch lernt; aber es wird ja auch
noch Latein gelehrt. Wie für dieses wird es vielleicht auch für das
Deutsche einige Nischen geben. Philosophie, Militär,
Verwaltungsverordnungen etwa. Es ist demoralisierend, wie weit wir
hinter die Avantgarde von vorgestern zurückgefallen sind. Nicht einmal
mit den fünfziger Jahren können wir mithalten, die zwanziger verstehen
wir gar nicht erst. Das ästhetische Experiment hat sich vom Inhalt
abgekoppelt.
Habe ich mich klar ausgedrückt?
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