lauter niemand - bio - prosa - lyrik - poetik
 
 
Johannes Becker
 
 
literaturlabor 28.09.2003
 
Vom anderen Ende
 
"Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, bei unserem letzten Gespräch? Über deinen Bruder?"
"Was soll das? Ich will nichts mehr damit zu tun haben."
"Was aber war es, das ich gesagt habe?"
"Ich weiß es nicht."
"Du lügst."
Sie schwieg belästigt, schob dabei abwechselnd die Augen nach oben unter die Lidhaut und ließ sie nach unten ausrollen. Derart schaute sie Kreise in die sich senkende und hebende Bücherwand vor ihr im Spiegel. Ihre Mutter stand, wie sie wußte, im Schlafzimmer vor einer Wand aus baumelnden Kleidungsstücken auf Plastikhängern mit flachgedrückten Stapeln dunkelfarbiger Gardinenstoffe auf einem Brett darüber. Denn dort, im Schlafzimmer, stand das Telefon. Stand es wohl immer noch.
"Warum sollte ich lügen? Ich habe nichts zu verbergen. Was ist los, was willst du?"
"Du weißt es wirklich nicht mehr? Was hast du denn? Es ist doch erst eine Woche her, dass ich angerufen hatte. "
Ja, wie hatte sie das tun können, wo hatte sie die Nummer herbekommen? Anna vermied es, laut zu werden, wie sie es immer hatte vermeiden können. Diesmal sollte es nicht anders sein.
"Das soll doch wohl bestimmt nicht bedeuten, dass du dir Sorgen machst, dein ‚Was hast du denn?' Sag mir, was so wichtig gewesen sein soll, dass ich es mir nicht einmal habe behalten können. Dann laß uns Schluß machen."
Ricarda lehnte sich durch den Türrahmen aus der Küche. Sie hob die Brauen, suchte den Blickkontakt mit Annas Spiegelbild. Ihr Kopf war fast kahl, ein wenig dunkler Flaum wie Pelz, eine hohe Stirn darunter. Das schönste Mädchen hier und überall, dachte Anna und gab ihr ein Zeichen. Ricarda kam lautlos heran.
"Dein Bruder kommt in die Stadt."
"Vor vier Jahren, Mutter, ist sein Flugzeug abgestürzt. Abgestürzt und gesunken", widersprach Anna fast behutsam, ihre Stimme durch ein Mitgefühl erwärmt, dass wir Kranken entgegenbringen, von denen man uns nur erzählt und deren Krankheit uns doch anwidert.
"Sein Flugzeug. Sein eigenes."
"Ja."
Die Mutterstimme scharrte im Hörer, monoton wie zuvor und verriet keine Irritation.
"Denkst du nicht, er weiß, was er mit seiner eigenen Maschine tut?"
"Sicher wußte er es. Er war ja ein Könner und Wisser, ein Alles-Wissen-Könner. Aber manchmal eben geht etwas schief. Geht so schief, dass keiner mehr was dran ändern kann, selbst er nicht."
Sie kräuselte die Lippen, erheitert.
"Er ist ein großer starker Junge. Ein guter Schwimmer."
Ricarda wippte im Türrahmen hin- und her, hielt eine Hand ans Ohr. Anna drückte die Freisprechanlage. Es knackte. Die Worte, die aus den Lautsprechern kamen, waren gänzlich verzerrt, völlig unverständlich, so dass Anna wieder umschaltete. Es knackte erneut.
"Was ist das, Anna? Dieses Echo?"
"Das sind die alten Leitungen, Mutter. Warum hast du angerufen?"
"Wie gesagt, dein Bruder kommt. Ich dachte, du solltest das wissen. Er will dich besuchen."
"Das ist es also."
Sie krümmte ihren Bauch im Dunkel des Flures ein und bog die weichen Mundwinkel hart in die Gerade.
"Ihr wollt herkommen, was? Ihr wollt mich jagen."
"Nicht ich, dein Bruder. Niemand weiter als dein Bruder Michael, der seine ältere Schwester in der Stadt besuchen will."
Ihre Eltern mußten inzwischen uralt sein, grau und häßlich, klumpig in ihrem Nest hängen, tagaus, tagein. Ricardas Blick erhellte sich in Aufmerksamkeit, als habe sie soeben etwas entdeckt, dass sich in Annas totem Winkel bewegte. Anna wandte sich um und suchte mit dem Blick die dunklen Borde ab.
"Ich will euch hier nicht haben. Weder dich, noch Vater. Noch Michael, wenn er noch lebte. Ich will nichts mit euch zu tun haben. Wenn ihr denkt, ihr hättet etwas gut zu machen, ich komme gut alleine zurecht."
Kälter selbst als es sonst die Art der alten Frau war, klang die Stimme vom anderen Ende der Verbindung um einiges mehr wie Glas über das ein Nagel fährt:
"Wir haben nichts gutzumachen. Wovon redest du? Du hast dir alles selber zuzuschreiben. Denke nicht, dass du uns für deine Probleme verantwortlich machen kannst."
Das hatte sie nie versucht. Das waren IHRE Worte. Sie übernahm die Verantwortung ganz für sich alleine. Niemand von ihnen besaß die Macht, niemand von ihnen das Recht, zu bewirken, wie sie hier an diesem anderen Ort dachte oder was sie spürte bei manchem beiläufigen Wort, dieser und jener Wetterlage oder was sie daraufhin zu tun entschied. Aber mit der Stimme kehrte auch die Wirkung zurück. Die Verbindung, totgeglaubt, stand in Sekunden und sie trug in den Wörtern eine dunkle Kraft von dort nach hier. Ihr Kopf entleert. Die Haut auf ihrem Gesicht blaß und dünn im dunklen Kristall, darunter nichts, das genügend Substanz besaß, einem festen Zug zu widerstehen. Für immer gepolt im Feld der verlorenen Jahre. So wie es Ricarda sah, Ricarda mit ihrer scharfen Nase und ihren guten Augen und was sie auch jetzt abermals zu sehen glaubte, aufgrund der bloßen Ansicht von Annas Widerschein im Spiegel, auch ohne alle die Worte zu hören, die gesprochen wurden. Nur von Ferne wie im Gehen die Stimmen mit denen sie seit 13 Jahren zu sich selber sprach: Nur wenn sie weg-, wenn SIE ALLE, fern-... Sie selbst alleine bliebe an diesem Ende eines schlaffen Taus. Sie hörte: Die Jahre seit ich ging, in jenem Alter. Höher die Zahl dieser Jahre, die seitdem verstrichen sind. Sie hatte - die verlorenen Jahre sollten bleiben, wo sie waren - genug eigene Jahre neugewonnen, auf der sicheren Seite wuchs das Land, erhob sich unaufhörlich der Berg über die See. Kein Segel am Horizont. One cannot waste one's time at 37. Anna wollte auflegen, doch sie zögerte im Gedanken daran.
"Mutter? Es gibt etwas, was du wissen solltest. Dass es etwas gibt, was du nicht weißt. Du weißt nicht, wo ich bin. Die Adresse, die ich dir gegeben habe..."
"Friedensstraße 37. Ich werde doch deine Adresse nicht vergessen."
Sie vergaß nichts, brauchte sich weiter keine Zettel zu ihrer Erinnerung zu schreiben. Verknüpfte sie ihr Gedächtnis mit den Dingen, die sie umgaben? Klang die Stimme deshalb so künstlich, so flach im Hörer des Telefons, so wenig nach dem Organ, das die Laute erzeugte?
"Es gibt keine Friedensstraße. Oder ja: Es gab sie. Sie ist evakuiert worden. Die Schilder sind alle abmontiert."
Es war eine Weile nichts zu hören, als habe Anna in der Tat überraschen können. Doch als er von neuem einsetzte, hatte der Ton der Stimme abermals an Nachdruck gewonnen, so als müsste Anna, ein besonders schwerer Fall von Leichtsinnigkeit, unbedingt zu ihrem eigenen Besten überzeugt werden:
"Anna, hör mir zu. Wir wollen nicht vorbeikommen, wirklich. Ich verspreche es. Und ich halte alle meine Versprechen, wie du weißt."
Sie wußte, das es stimmte, denn ihre Mutter versprach sich nie.
"Wir wollen nicht zu dir. Es ist nicht nach unserem Geschmack. Es ist nur dein Bruder..."
Erneut eine Unterbrechung, keine Atemzüge im Hörer. Sie hielt wohl den Atem an, dort im Schlafzimmer vor der sich regenden Stoffwand.
" Er ist hier. Er will bald zu dir kommen und dich besuchen. Gib mir deine Adresse."
"Er soll selber, was soll das, du bist verrückt."
Anna trug einen blauen Strickpulli und einen weißen Kragen darüber. Die Temperaturen stürzten. Sie begann zunehmend zu zittern, wie ein Flügel, der sich um den Vogel schließt. Was von ihrem Körper steinweiß aus der Kleidung ragte, schwebte taumelig vor den schwarzen Bücherrücken. Ricarda trat hinter sie und fuhr ihr durchs stumpfe Haar. Sie umgab sie mit ihren langen Armen an deren Ende ihre Hände auf Annas Bauch sich sachte rührten. Ricardas Atem war warm und von unten drang Anna durch den Rock feuchte Hitze an die Hinterbacken und ins Kreuz. Ricardas Lidhaare schlugen gemessen auf und ab. Ricarda, Liebe Ricarda, dachte sie. So müßte einst ein Brief beginnen. Ich danke dir für alles. So würde er enden müssen.
"Er kann nicht ans Telefon. Er ist erkältet, der arme Junge. Ist ja auch kein Wunder."
Sie merkte, wie es an ihr hochkroch, die Beine hinauf, klamm und heimlich in der Deckung kleiner Falten und Unebenheiten.
"Du, du bist ja verrückt! Laß mich in Ruhe, geh weg, weg, du Spinne, freßgieriges Dreckvieh..."
"Anna? Er hat nicht lange gebraucht, die Telefonnummer herauszufinden. Er ist vielversprechender, als du denkst. Er kann auch deine Adresse bekommen. Und er kann noch viel mehr. Besser, du selber sagst sie mir."
Stille schnitt an dieser Stelle ab, diesmal nicht vom angehaltenen Atem, denn es erfolgte das Besetztzeichen. Ricarda hatte die Gabel gedrückt und losgelassen. Annas Kopf hing schief nach vorne und sie bekam ihn nicht wieder in die Gerade. Ihre Augäpfel schwitzten, sie sah es im Spiegel, doch spüren konnte sie nichts davon. Bleich wie eine Faust starrte sie sich selbst auf den schmalen Mund, die Ohren, Nase, Augen, und die Augenhaut mit ihren Poren.
"Warum hast du das gesagt?"
Anna hörte sie nicht an ihrem Ohr, dachte: Ein Fehler, ein Irrtum. Gespräche wie diese sollten niemals stattfinden. Sie dachte: Wenn schon am anderen Ende etwas blieb und ausharrte, besser gar nichts sagen, als gäbe es an ihrem Punkt des Verbindungsnetzes nichts, wohin sie sich von dort aus richten könnten. Und: Wäre es nur so, für den Moment.
"Warum hast du das gesagt?"
wiederholte Ricarda lauter, näher am Ohr.
"Hätte ihnen sicher nichts geschadet, hinzukommen und selber herauszufinden, dass dort nichts ist. Jetzt wissen sie, dass die Adresse nicht stimmt. Du hättest gar nichts sagen müssen, keiner hat dich gezwungen, irgendetwas zu sagen. Du hättest gleich auflegen sollen."
Wenn eine andere wissen konnte, dachte Anna, was Anna dachte, dann sie. Ricarda dachte: Ich will es dabei bewenden lassen, setzte dann aber hinzu:
"Du läufst noch immer an ihrer Leine. Sie brauchen nur einmal dran zu ziehen und du wirst zu einer Fremden, die dahin läuft, wo sie dich haben wollen."
Anna nahm die Augen aus dem Spiegelglas, schob im Wegdrehen Ricardas tröstendes Fleisch von sich. Sie sagte:
"Du verstehst mich nicht."
Sie habe nichts mit ihrer Familie gemein.
"Wirklich nichts, es geht gar nicht, ich bin ganz anders als sie, biologisch anders."
Es sei wie in den Berichten über Wechselbälge, nur umgekehrt. Sie wisse wirklich nicht, wie sie unter diese Leute habe geraten können.
"Sie sind nicht wirklich meine Familie. Sie sind eine Wechselfamilie. Wechselmutter. Wechselvater. Wechselbruder. Auswechseljahre. Sie haben", Anna keuchte und stieß eine schwere Atemwolke in die kalte Luft, " sie haben Schwänze. Riesige Schwänze, die ihnen aus dem Kreuz zwischen die Beine wachsen, Schwänze, die beweglich sind und widerlich glänzen unter ihrer schwarzen Behaarung." Sie zeigten sie nicht, wenn Besuch da ist, nicht vor den Nachbarn. Wir haben nichts zu verbergen, sagten sie. Aber wenn alle gegangen seien, die Familie für sich, dann sähe man sie, dann würden sie sichtbar. "Mein Bruder war der Schlimmste von ihnen, schlimmer als die andern zwei. Schon als er nur ein kleines Baby war, der ganze Stolz seiner Schweineeltern, hatte man es sehen können. Sein Schwanz war schon damals fast so lang und lederig wie der von ihm und ihr, man hätte ihn daran hochhalten können, ohne ihm Schmerzen zu bereiten. Er ringelte sich träge und rosa zwischen den Arschbacken nach vorne durch, wenn man ihn aus den Windeln holte, regte sich, wenn er im Schlaf lag und schmatzte. Und er wuchs so schnell, überzog sich mit Horn und Haaren, wurde immer größer und garstiger. Michael hörte auch nicht auf zu wachsen, als seine Freunde schon lange damit fertig waren. Ich war erleichtert, als er das erste Mal ins Ausland reiste, für einen Schüleraustausch, später dann ins College ging, in den diplomatischen Dienst trat und immer mehr unterwegs war." Doch sei es nur schlimmer geworden, denn man habe nie gewußt, wann er das nächste Mal auftauchen würde. "Er kam immer völlig überraschend, stand auf einmal da und platzte aus allen Nähten. Dann wurde eine große Mahlzeit zubereitet, bei der auch Vater mit Hand anlegte. Und dann saßen sie da, kauten das Essen mit spitzen Zähnchen, und der Saft spritzte, und er erzählte Geschichten aus Afrika und Indien und überall in der Welt. Dabei schmatzte er und sah mich unentwegt an. Jedesmal war er wieder ein Stück gewachsen und aus den Spalten zwischen den Hemdknöpfen quollen Büschel schwarzen Fells hervor." Sie frage sich, wie seine Kofferträger später, die Sekretärinnen, die er fickte, nicht hatten wissen können, was für ein Monster er gewesen sei. "Vielleicht hatten sie es ja gewußt und es genossen." [ Das letzte Mal, als sie ihn sah, war neun Jahre vor dem Flugzeugabsturz gewesen. Er hatte ein Taxi an der Straße vor dem kleinen Reihenhaus halten lassen, und sich vom Waldrand her, durch den Kücheneingang, von hinten ins Haus hineingeschoben. Er hatte sich bücken müssen, um nicht durch die Decke zu stoßen] "Mit 22 Jahren hatte es Michael schon weit gebracht. Sogar die Eltern schienen Angst vor ihm zu haben. Es hat gedauert, bis mir erst klar wurde, dass ich anders war. (Lange genug hatte ich jeden Morgen nachgefühlt, bange ob dort etwas wüchse zwischen den Beinen, trug immer weite Röcke, nicht Jeans wie die anderen Mädchen in der Schule). Und dann, dass ich gehen konnte. Einfach gehen konnte. Und ich ging." Und er sei gestorben. Irgendwo im Pazifik. "Rechtzeitig, noch bevor er mich hatte jagen und auffressen können."
"Ist ja gut", flüsterte Ricarda. Um die Ecke vom Küchenfenster war - zumal draußen der Himmel zuzog und im Flur kein Licht brannte - wenig von ihrem Gesicht zu erkennen. Anna nahm Ricardas Kopf zwischen die unruhigen Hände, grub ihre Nägel tief in das zarte Fleisch unterhalb der hohen Wangenknochen.
"Glaubst du mir?"
fragte sie. Wie hatte ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und in den Flur gelangen können? Oder waren es die hellen Augen, deren Iris transparent bis in die Tiefe dalag, wo auf ihrem Grund ein heißer Stern brannte? Denn Ricarda stand in einem hellen Schein.
"Ich glaube dir", gab sie zur Antwort. Anna wiederholte in Gedanken und drehte sich jetzt ganz ruhig noch einmal zum Spiegel, diesmal um ihre Haare zu ordnen. Sie glänzten tiefschwarz und ihre Wangen schimmerten rot. Sie küsste Ricarda langsam, ohne ihre Zähne zu spüren.
"Komm in die Küche, Anna'chen. Ich hab' dir eine Suppe gekocht."
"Ja ich weiß."
Ricarda kochte diese Suppe jeden Tag. Nichts war weniger ungewöhnlich.
"Das ist lieb von dir."

*


An diesem Abend brach zum ersten Mal seit Wochen die Sonne durch. Es war eine verschwommene, rote Herbstsonne und ihr Licht hing noch lange in der Dämmerung an den Rändern der Wolken. Ricarda meinte, vielleicht werde es jetzt wieder besser und Birgit rief an und auch Susanne aus dem Agrarblock, "Ein prächtiger Sonnenuntergang. Bestimmt wird es bald besser", meinten sie alle, meinte auch Anna. Sie wolle sich gleich aufs Dach setzen, plauderte Susanne, vielleicht, wenn es warm genug sei.
Am nächsten Morgen hatten sich die Wolken erneut geschlossen und um die Mittagszeit setzte heftiger Regen ein, der in den nächsten Wochen beständig härter fiel. Anna sah aus dem großen Küchenfenster, während sie abspülte, oder am Tisch zusammen mit Ricarda große Stapel rostiger Teile aus dem Schrottberg hinterm Haus durchsah. Das Wasser floß in schweren Tropfen über die Scheiben und überflutete vollständig die große Brache unten um das Haus. Es strömte schwarz und schwer im Unterholz zwischen den schmalen Stämmen der Birkenbäume und es unterspülte und entwurzelte die Wacholderbüsche, die im Sommer manchmal so hoch wurden wie ein Mensch. Aus seinen Beeren stellten sie im Agrarblock einen süßen Saft her, nach dem wochenlang alles schmeckte, was man dort aß. Im Moment jedoch konnte von gegenseitigen Besuchen nicht die Rede sein. Normalerweise durchzog die Brache ein Netz krummer Trampelpfade von einem Haus zum anderen. Jetzt war dort ein See. In seiner Mitte der Wohnturm, der weil er so einzeln dastand, von allen die "Kleine Freiheit" genannt wurde. Bis zu den nächsten Häusern fehlte auf hundert Metern jede Bebauung. Dadurch erhielten die Wohnungen der Kleinen Freiheit selbst im Erdgeschoß mehr Licht als eine Wohnung, wie sie Birgit, dort wo die Bebauung normal dicht und abgeschlossen war und man von einem Gebäude zum nächsten direkt über deren Innenhöfe gelangte, alleine im obersten Stock eines Altbaus bewohnte. " Wie düster sie es hat." mußte Anna oft denken und als sich die Lage weiter verschlechterte, telefonierten sie öfters. Das Telefon funktionierte noch fast überall und auch der Strom, wenn auch nicht in den oberen Stockwerken ihres Gebäudes. Sie hatten mit einigen Rollen alten Kupferdrahts Überbrückungsleitungen gebaut. Es sei zu hoffen, dass die Sicherungen nicht durchbrannten, sagten sie denen, die sie im Treppenhaus dazu befragten.

Nach einer weiteren Woche, der November hatte begonnen, brach die Telefonleitung zum Agrarblock zusammen. Auch konnten sie sehen, dass dort nachts in keinem der Fenster Licht brannte. Sie redeten wenig in der nächsten Zeit und oft saßen sie nur am Tisch und starrten schweigend auf den See, der wegen des von der Bewölkung gestreuten, abgedämpften Lichts kaum spiegelte, nur stumpf an seine Ufer schlug. Ricarda blieb morgens und abends immer länger im Bad. "Hast du noch nicht genug von all dem Wasser?" fragte Anna einmal, nachdem sie über eine Stunde an der Wand neben der Badezimmertür gelehnt hatte, bis Ricarda wieder hinauskam. Ricarda sah sie nur kurz mit verengtem Blick an und verließ die Wohnung, um im Hof an einer Überdachung für das Ersatzteillager mitzubauen. Eine solche Arbeit sei reine Beschäftigungstherapie, so hatte sie nach dem Frühstück diese Maßnahme kommentiert. "Es sollte ein Scherz sein", dachte Anna bitter. Am Abend rollte sie sich weg von Ricarda und verbot ihr, sie anzufassen.

Eines Morgens kam triefend und über und über mit Schlamm bespritzt ein Junge aus dem Unterholz gebrochen. Die Fensterläden im Erdgeschoß waren wegen des Wassers mit Sandsäcken verbaut worden, und er mußte lange dagegen hämmern, bis ihm jemand aufmachte. Es war Susannas Sohn - sie hatte immer gesagt, er sei ein guter Schwimmer - der ihnen ausrichtete "Alle noch in Ordnung bei uns, wir kommen klar. Ihr hoffentlich auch?". Sie wollten den Jungen auf keinen Fall wieder weglassen, bei dem Wetter könne ja wer weiß was passieren. Er war ein scheues, leberfleckiges Wesen, das die ganze Zeit klein und stumm in einer Ecke saß und wegschaute, wenn man zu ihm sprach, als könne er gar nicht gemeint sein. Unbemerkt, noch am selben Tag, verschwand er wieder. Ricarda und Anna unterhielten sich lange darüber ("Leichtfertig" fanden sie) und über andere Dinge, bis es Morgen wurde. Heftiger Wind war aufgekommen, peitschte Wasser und Pflanzen und richtete auch an den Gebäuden einige Schäden an. Als sie auf den Dachboden gingen, um sich ein Loch in der Abdichtung anzuschauen, sagte Ricarda: "Bald wird es Winter. Dann gefriert der ganze Scheiß." Wenigstens könne man dann wieder von einem Haus zum nächsten, sagte Anna. Ricarda nickte, schien aber nicht ganz glücklich damit.

Am 15. November brach eine Schlammflut in die unterste Etage ein und hatte diesen Teil des Hauses unbewohnbar gemacht. Als sie am Nachmittag des selben Tages das Licht einschalten wollten, blieb es dunkel. Der Fehler lag außerhalb. Irgendwo unten im Schlamm, jenseits des Hausnetzes, war die Hauptleitung durchtrennt. Rost, vermutete man. Oder Tiere hatten daran genagt.

Anna wischte Wasser vor sich her die Treppe hinunter. Sie begann vor dem Aufgang zum Dachboden, da das Dach mittlerweile völlig undicht war und über die Stufen ohne Unterlaß Wasser von oben nach unten rann. Es war sehr dunkel im Treppenhaus, ohne die Lampen, die dort schon seit den ersten Stromausfällen nicht mehr brannten, und Anna glitt mehrfach aus. Auf dem letzten Treppenabsatz vor dem Eingang hielt sie an. Unten an der Tür quoll durch die halb beiseite geräumten Sandsäcke weiter Wasser und schlug kleine, ringförmige Wellen. Es roch scharf nach Sumpf und Abwasser. Graues Licht fiel auf eine dunkle Gestalt, die halbaufgerichtet im Schlamm an der Wand unterhalb der Briefkästen lehnte.

Sie zogen Birgit die nassen Kleider aus und wickelten sie in einen fast trockenen Bademantel. Als sie wieder zu sich kam, war sie noch lange nicht zu sprechen in der Lage. Sie saß im Sessel in Ricardas Zimmer, eine Wärmflasche im Schoß und starrte in den dunklen Innenhof. Den Tee, den sie ihr hinstellten, rührte sie nicht an. Aus ihrer Nase rann unablässig Wasser. Sie erbrach sich zweimal, beim erstenmal schwammen in dem Brei, der ihr durch die Nasenlöcher und zwischen den Lippen hervorschoß, lauter kleine Pflanzenstücke. Zum Schluß schlief sie lange, ausgestreckt auf der feuchtkalten Matratze.

*

Irgendwann frühmorgens steht Birgit im Türrahmen zur Küche. Draußen regnet es nur noch wenig, doch die Temperaturen sind in der letzten Nacht stark gefallen und durch die weiter ungebrochene Wolkendecke dringt kaum Licht. In den Regalen und auf den Borden stehen Kerzen, die rauchig brennen und ein hektisches, ungenügendes Licht abgeben. Seitlich vom Fenster am Tisch sitzen ANNA und RICARDA auf Stühlen. Ein dritter Stuhl gegenüber dem Fenster ist frei. Birgit sieht klein aus. Sie ist einmal sehr füllig gewesen, hatte einen schönen Busen mit rosa Spitzen gehabt. Jetzt scheint der graue Frottee des Bademantels einen Kinderkörper zu verhüllen, so flach und eckig die Konturen. Birgit versucht ein Lächeln und kommt verhuscht zu ihnen an den Tisch gelaufen. Ihre schmalen Füße knatschen in den Tüchern und Stofffetzen, die überall auf dem Boden herumliegen und Wasser aufsaugen. Birgit setzt sich auf den freien Stuhl. Ricarda stellt ihr eine mit einem heißen Getränk gefüllte Tasse hin. Birgit führt sie ungeschickt zu Mund und einige Spritzer Flüssigkeit tropfen auf die Tischplatte. Anna wischt wortlos mit ihrem Ärmel darüber.

BIRGIT (hustet): Eure Bücher im Flur sind ganz aufgeweicht.
RICARDA (lacht, spielt auf der Tischplatte mit Anna Fingern): Ach, die sind eh nicht mehr so spannend, wenn man sie schon zum fünften Mal gelesen hat. Man muß sich halt merken, was drin steht.
Draußen hat es aufgehört zu regnen.

RICARDA: Frierst du nicht in dem dünnen Ding?
BIRGIT (schüttelt den Kopf; wartet): Es hatte bei mir geklingelt, gestern abend. Ich hab' es gerade noch geschafft, wegzukommen.
Ricarda zieht ihre Hand von der Tischplatte zurück und legt sie den Schoß.
RICARDA: Wer? Wer hat geklingelt?
Anna sieht sie an. Ricardas scharfgeschnittenes Gesicht ist ganz grau und die Augenbälle glänzen hart im unsteten Licht der Kerzen.
BIRGIT (zuckt mit den Schultern): Ein Mann. Er sagte, er wolle zu Anna. Die Nachbarin unter mir, Anna Berg... Weiß nicht, kanntet ihr sie?
RICARDA: Nein.
Anna schüttelt den Kopf.

BIRGIT (schüttelt sich in einem plötzlichen Reflex und sondert von da an ständige nervöse Signale ab; Stuhlwippen, Kratzen am Tischrand mit den Daumennagel u.ä.): Ich dachte, er meinte sie. Sie kam manchmal, um sich Werkzeug zu leihen oder ich mir bei ihr. Sie war auf der Party letztes Jahr. Sie hatte braunes Haar. Pause, die Birgit gerade noch eilig unterbricht, bevor es ein anderer tun würde. Ich habe sie ausgeliefert. RICARDA: Hast du ihm aufgemacht?
BIRGIT: Ja. Es kamen Schritte das Treppenhaus hoch, dann hörte ich die Klingel in Annas Wohnung. Kurz darauf hörte sie schreien. Ich wartete, ob ich wieder etwas hören würde, oder ob die Nachbarn etwas tun würden, doch ich hörte eine ganze Weile nichts. Dann kamen wieder Schritte die Treppe hoch, in unser Stockwerk. Jemand klingelte an der Wohnungstür gegenüber von meiner, direkt am Treppenabsatz. Die Tür wurde geöffnet... Ich habe nichts gemacht wie abzuhauen. Ich dachte mir, bei euch wäre ich sicher. Pause. Ja, es war ein harter Weg hierher. Bei dem Regen und durch das Wasser. Ich, ich mußte schwimmen -" Birgit schaut mit gesenktem Blick die beiden Frauen an, die ganz gerade auf ihren Stühlen sitzen, jede von ihnen größer als sie.
RICARDA (sieht alarmiert zu Anna hin, die sich halb in ihrem Stuhl aufsetzt): Setz dich Anna.
ANNA: Hast du ihn gesehen.
Birgit will etwas sagen, aber Ricarda fährt dazwischen.
RICARDA: Das ist doch völlig irrelevant jetzt. Sie hat doch nichts machen können. Mißtraust du ihr etwa? Das waren doch wohl genug Gründe, um sich zu verhalten, wie sie es getan hat. Setz dich, bitte!
ANNA (beachtet sie nicht): Wie sah er aus? Hast du ihn gesehen?
BIRGIT: Nein. Ich bin an der Tür vorbeigelaufen, weil ich ja ins Treppenhaus mußte... Sie war angelehnt, aber ich habe mich nicht getraut durchzuschauen. Ich hörte nur hin. Sehr genau! Sehr genau habe ich hingehört! Hättet ihr nur hören können. Hättet ihr nur hören können.
Der Vormittag ist mittlerweile weit fortgeschritten, doch draußen ist es eher noch dunkler geworden als vorher. Es müssen dort Minusgrade herrschen. Alle drei frieren sehr stark. Der Himmel über der Brache ist gelb und still und bietet dem Auge keinen Anhaltspunkt.

*

Es habe geklungen, sagte Birgit, wie ein Schmatzen. Draußen fielen erste Schneeflocken. Langsam legte sich der Winter um die "Kleine Freiheit".